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Ganz nach der Wahrheit

Ein Plädoyer für Odysseus von Nikolaus Lottersberger

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Odysseus, der König von Ithaka, ist ohne Zweifel eine der faszinierendsten und berühmtesten Persönlichkeiten der Weltliteratur. Sein Schicksal und seine Taten beeindrucken und bewegen nun seit mehr als dreitausend Jahren die Menschen rund um den Erdball. Bis heute ist er im Wissen der Menschheit präsent und allseits bewundert. Trotzdem stellt er eines der letzten großen Geheimnisse der Geschichte dar, weil es bis heute niemand gelungen ist, den Schleier über seiner wahren Existenz zu lüften. Sein Vermächtnis verdanken wir Homer, der schon mit der Ilias der Nachwelt unendliche Schätze an Wissen über das Leben der damaligen Welt und ihre Helden überliefert hat.

Homer ist wie Odysseus eine große Unbekannte aus der Geschichte der letzten dreitausend Jahre. So berühmt er ist, so wenig Konkretes weiß man über ihn und sein Leben. Blind soll er gewesen sein und hochberühmt. Auch soll er im Mittelmeerraum viel herum gekommen sein und an verschiedenen Königshäusern der damaligen Zeit gewirkt haben. Wie gesagt, gesichertes Wissen über ihn gibt es nicht wirklich, auch nicht darüber, wann er gelebt hat. Wenn er aber blind war, wie konnte er dann all die Details und Gegebenheiten aus Ilias und Odyssee aus eigner Wahrnehmung von sich geben, geschweige denn niederschreiben? Wie konnte er als Blinder an Kämpfen teilgenommen haben und an Orten anwesend gewesen sein, wo diverse Geschehnisse stattfanden? Er soll selber die fraglichen Plätze bereist haben und viele Geschehnisse dorthin verlegt haben, behaupten einige Wissenschaftler. Welche Leistung eines Blinden! Ein Blinder beschreibt Menschen, Orte, Dinge, ja sogar Kampfszenen bis ins kleinste Detail aus eigener Wahrnehmung. Sehr beachtlich!

Blindwütige Phantasie

Ganz anders die Märchengläubigen. Nach deren Meinung hat Homer alles – sowohl die Odyssee, wie auch die Ilias – schlicht erfunden und es ist ihm damit gelungen, seine Welt zu begeistern. Ein Märchenonkel erfindet Kriege, Schlachten, hunderte Personen und Orte, konstruiert fehlerlos erfundene komplexeste politische und gesellschaftliche Zusammenhänge und hat technisches Wissen, wie ein Multigenie. So genial, dass in dreitausend nachfolgenden Jahren Dichterfürsten von seinem Stoff leben. Ein sensationeller Start in die Weltliteratur. Wie toll ist das denn! Unglaublich! Aber bloß nicht darüber nachdenken, dass es so etwas nicht geben kann. Es ist nach menschlichem Ermessen die unwahrscheinlichste These, aber nichtsdestotrotz heute noch unter Wissenschaftlern stark verbreitet.

Tatsächlich hat es den Anschein, dass bei Homer und Odysseus generell krude Annahmen herrschend sind und bleiben, die in anderen, vergleichbaren Fällen, niemals Gegenstand der Diskussion wären. Es braucht schon sehr viel Phantasie und vor allem Vertrauen in die Kunst des ersten wirklich großen Literaten unseres Kulturkreises, wenn man ihm so viel geniale Kunstfertigkeit unterstellt, sodass über mehr als 3000 Jahre die Dichterfürsten ob seiner Genialität staunen und über die Maßen fasziniert sind. Das bedeutet, unsere Literaturgeschichte ist auf einem Level gestartet, den Hochkulturen nur gelegentlich vor ihrem Untergang – allenfalls – erreichen, wenn sie zu den absoluten Spitzenvertretern der jüngeren Geschichte und Zeit gehören.

Frei von alternativen Fakten

Respekt für Homer, wenn es so ist. Ist es aber nicht, denn Homer war ein Nacherzähler, ein Überlieferer alter Heldentaten. Diese hat er entweder unverfälscht übernommen oder er hat sie noch zu Lebzeiten des Odysseus mit diesem zusammen, vielleicht auch nur sehr zeitnah im Auftrag der (unmittelbaren) Nachkommen des Odysseus selber niederschreiben lassen. Denn wenn er blind war, konnte er sie nicht selber niederschreiben. Diese Tatsache scheint aber viele nicht zu stören. Copyright by Homer und fertig!

Woher kommen die Epen denn dann? Die lebensnaheste These ist wohl die, dass Odysseus der Urheber dieser Epen ist. Sie sind entgegen der Meinung zahlreicher Menschen bis aufs letzte Jota authentisch. Der blinde Sänger Demodokos, von Odysseus als der Beste von allen (Odyssee VII. 487 – 495) gepriesen, hat aus den Erzählungen des Helden die beiden Epen kreiert, die von zeitgenössischen Sängern weitergetragen und der Nachwelt überliefert wurden. Genau so, wie es in der Odyssee mehrfach geschildert wird und noch vor hundert Jahren selbst in unserem Kulturkreis gängig Praxis war.

In einzelnen Passagen, insbesondere in Dialogen mit Eumäus, leuchtet der Erzähler und somit der Urheber eindeutig hervor. Odysseus! Zigfach spricht der Urheber, also Odysseus, seinen Sauhirten – aber nicht nur diesen – mehrmals direkt an. Und zudem wurde an den zahllosen extrem präzisen Angaben jedweder Art in den beiden Epen nichts verändert. Warum auch? Sie waren zur Zeit ihrer Entstehung und wohl lange danach real nachprüfbar. Auch später gibt es keinen schlüssigen Grund, etwas perfekt abgebildetes Reales durch unmotivierte Erfindung zu ersetzen. Schon deshalb, weil die beiden Werke wiederholt für ihren Inhalt den absoluten Anspruch erheben, dass „alles ganz nach der Wahrheit“ erzählt ist.

Die Erzählungen in der Ilias und der Odyssee sind darüber hinaus zu einem gut Teil quasi religiösen Charakters mit dem Anspruch auf Absolutheit in der Befolgung aller darin dargelegten Unterscheidungen, was gut und was böse ist.

Ewige Faszination Odyssee

Homers Erzählungen hielten über Generationen ganze Kulturen in Bann. Ganz zu schweigen von jenen Giganten von Literaturschaffenden neuerer Zeit, wie Goethe und Schiller, die ihre Stoffe für teilweise epochale Werke in den Themen der Ilias oder der Odyssee fanden. Die Faszination der Homerischen Epen ist grandios. Wer sich in sie vertieft, bleibt davon gefesselt. Selbst die beiden völlig unbestrittenen Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich von Schiller sollen sich in höherem Alter nahezu ausschließlich damit befasst haben.

Sie befassten sich wohl eher nur literarisch mit der Ilias und der Odyssee, während andere versuchten, die Angaben in beiden Epen zu verifizieren. Als es schließlich dem unvergessenen Kaufmann und Archäologie-Autodidakt Heinrich Schliemann gelang, mit seinen Forschungen und Ausgrabungen den bis dahin meist als reine Legenden geltenden Erzählungen der Ilias und der Odyssee ein reales geo- und topografisches Gesicht zu verleihen, schien die Einschätzung der Epen als antike Märchen ohne realen Bezug widerlegt. Und nach ihm kamen zahlreiche weitere Forscher und Wissenschafter, die sich der Zeit des Odysseus im archäologischen bzw. historischen Sinne mit Hingabe und Akribie widmeten. Mittlerweile sind die Funde auf Basis von Angaben in Ilias und Odyssee Legion.

Das Mysterium, das keines ist

Trotzdem wird in Sachen Ilias und Odyssee und ihren realen Hintergründen geleugnet, was das Zeug hält. Dies obwohl große Mengen an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Funden zu zahlreichen Themen und Orten aus Homers Epen evident sind. Unschätzbare Werte wurden auf diesem Wege der Menschheit eröffnet und bewahrt. Trotzdem liegt vieles nach wie vor im Dunkeln und harrt der Entdeckung. Vor allem Odysseus und seine unmittelbare Umgebung, in der er gelebt und gewirkt hat, ist selbst heute noch den Blicken der Betrachter entzogen, obwohl er der größte von allen „alten Helden“ ist. Alle möglichen und noch so kruden Thesen, wo Odysseus und Ithaka sind, wurden aufgestellt und ernsthaft diskutiert, außer eine: Dass Odysseus auf Ithaka lebte, wie Homer es überliefert.

Mit viel Phantasie, großem Aufwand und unter Einsatz beträchtlicher finanzieller und technischer Mittel wurde seit jeher an der Lösung des Rätsels Odysseus gearbeitet. Jedoch bis heute ohne den entscheidenden Erfolg. Das verblüfft sehr und mutet geradezu unvorstellbar an, wenn man die hochtechnischen Errungenschaften betrachtet, die uns heute in der Forschung zur Verfügung stehen. Diese hatte Schliemann nicht und doch ist es ihm gelungen, viele der Stätten zu finden, von denen in Homers Ilias und Odyssee die Rede ist. Wie ist das möglich? Er hatte lediglich die geo- bzw. topografischen Angaben Homers zur Verfügung. Aber das reichte. Klar, was denn sonst! Homer erzählt ganz nach der Wahrheit.

Der blinde Alleskönner

Homer ist also – das kann als eindeutig erwiesen angesehen werden – sicher kein Märchenerzähler und schon gar kein Lügner. Er ist auch kein Münchhausen und kein poetischer alter Phantasierer. Er ist der Überlieferer der „Bibel“ für die Menschen der damaligen Hochkultur der Griechen. Seine zentrale und ausdrückliche Aufgabe ist es, Tradiertes zu bewahren und der Nachwelt vollkommen unverfälscht weiter zu geben. Was er zu berichten (zu besingen) hat, ist sicher nicht das, was er, Homer (Demodokos), persönlich erlebt hat, sondern das, was (sein) König Odysseus erlebt und ihm erzählt hat. Wäre dem nicht so, wäre Homer (Demodokos) ein blinder Alleskönner mit Fähigkeiten, die jedem Sterblichen versagt sind. Er wäre der einzige blinde Mensch, der (fast) alles (sehen) kann. Sehr glaubwürdig? Scheinbar ja, sonst würde es nicht von vielen Wissenschaftlern so angenommen.

Obwohl es den Anschein hat, als müsste er selbst an allem teilgenommen haben, worüber er berichtet, so detailliert und präzise sind alle seine Darstellungen und Beschreibungen, kann er als Blinder nur wiedergeben, was man ihm erzählt hat. Dies gilt selbst dann, wenn er nicht blind war. Auch dann ist es unmöglich, physisch an allen Orten und Situationen anwesend gewesen zu sein, die in der Odyssee und Ilias niedergelegt sind.

Aus seinen Angaben darf geschlossen werden, dass der wahre Erzähler, wie oben gesagt, Odysseus ist. Nur dieser war an allen Orten, um die es in Ilias und Odyssee geht. Homer (Demodokos) ist ein Beschreiber von damals wie heute beweisbaren Tatsachen, realen Orten und Ereignissen, existierenden Völkern, und vor allem Menschen aus Fleisch und Blut. Keinesfalls ist Homer (Demodokos) ein schlichter Belletristiker mit ausgeprägter Phantasie. Wer diese Meinung vertritt, sei auf all jene Erkenntnisse der Wissenschaft verwiesen, die es dazu gibt. Vor allem auf das, was sich um Troja rankt, das so lange als fiktiver Ort galt.

1.500 Seiten Märchen ohne Lüge

Warum hätte Homer fiktive Orte für seine Gesänge wählen sollen, wenn es doch darum ging, die Wahrheit über ein unglaublich dramatisches Geschehen zu tradieren, um es der Nachwelt in all seiner Tragweite zu erhalten? Warum hätte Homer all die Geschichten, Namen und Zusammenhänge erfinden sollen? Wie und warum hätte er sich mit diffizilen Lügenkonstrukten zum Popstar machen sollen, wenn das dem herrschenden Zeitgeist und der herrschenden Moral diametral entgegenstand? Noch dazu leistet sich Homer in seinen angeblich erfundenen Erzählkonstrukten Ilias und Odyssee keinen einzigen Fehler.

Die Namen der handelnden Personen, die Zusammenhänge der Ereignisse, die Verwandtschaftsverhältnisse, die Machtstrukturen, die Bezeichnung der Völker und Gegenden, die zeitlichen Abfolgen von Geschehnissen und die unzähligen Details in zahllosen Beschreibungen zu erfinden und ohne Widersprüchlichkeiten auf mehreren hundert Seiten niederzuschreiben ohne Buchdruck oder gar Computer, ist eine Leistung, die jeder objektive Betrachter als unmöglich erachten wird. Zumindest für die Zeit vor 3.200 Jahren.

An der Universität Salzburg hat man über Jahre die Personenstrukturen aus Ilias und Odyssee in allen Details erarbeitet. Studierende samt ihren Universitätslehrenden waren semesterlang damit beschäftigt, die Zusammenhänge zu ordnen und optisch abzubilden. Im Jahr 2012 waren diese engen Geflechte für jedermann zugänglich auf den weit über hundert Meter langen Mauern des Mirabellparks optisch dargestellt. Ein gigantisches Meisterwerk, das ein einzelner vor 3.200 Jahren so mir nichts, dir nichts geschaffen hat. Hat Homer das wirklich locker aus dem Ärmel geschüttelt? Wie wundersam und genial, wenn er oder Demodokos dies tatsächlich geschafft hat! War er denn ein Gott?

Dem objektiven Betrachter der heute vorliegenden Beweise für die Existenz von all dem, was in der Ilias und der Odyssee niedergelegt ist, sollte es hinreichen, die Schriften ernst zu nehmen und historisch mit den Mitteln der Wahl zu festigen. Dazu genügt es allerdings nicht, sie mal schnell quer zu lesen, man muss die Inhalte auch für bare Münze nehmen, um ihren Sinn zu verstehen. Wer dies ablehnt, sollte zu beiden Epen tunlichst schweigen. Aber zurück nach Troja. Im zehnten Jahr der Belagerung der sagenumwobenen Stadt gelang es infolge einer List des Odysseus, die uneinnehmbar scheinende Metropole zu erobern. Spät aber doch. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wären die Achaier wohl bald auch ohne Erfolg abgezogen, hätte der waghalsige Plan des Odysseus mit seinem Holzpferd nicht funktioniert. Die Kriegsmüdigkeit hatte alle endgültig erfasst. Sie hätten aufgegeben.

Nun war endlich das Glück auf der Seite der Achaier. Die Stadt wurde gestürmt, geplündert, gebrandschatzt und aller Menschen beraubt, die irgendwie einen Nutzen versprachen und es nicht geschafft hatten, zu fliehen. Mit einiger Beute kehrten die achaiischen Kampfgefährten in ihre heimatlichen Gefilde zurück. Allerdings mehr oder weniger direkt und mehr oder weniger schnell, je nach aktueller Befindlichkeit der kriegserprobten Gesellen. Nicht wenigen von ihnen war die Beute aus Troja nicht genug, denn es waren zu viele, unter denen das Beutegut aufzuteilen war. Und man war ja ohnehin auf Ruhm versprechendem Beutezug, da war es gewissermaßen logisch, weitere Raubziele rund ums Mittelmeer anzusteuern, um weitere Reichtümer zu ergattern, bevor man in die Heimat zurückkehrte.

Räubernd herum zu schiffen und Reichtümer zu erbeuten, war damals weder unschicklich noch unüblich. Ganz im Gegenteil, es verschaffte Ruhm. Man musste nur das nötige Equipment, das entsprechende Können und den nötigen Mut dazu haben. So konnte mancher der Kriegsheimkehrer dem einen oder anderen lohnenden Umweg bzw. Beutezug am Rückweg nach Hause nicht widerstehen.

Menelaos zum Beispiel, der König von Sparta, war nach Troja samt seiner dort wieder gewonnenen Frau Helena mehr als sieben Jahre auf Raubzug am Mittelmeer unterwegs. Erst im achten Jahr kehrte er samt Helena mit unermesslichen Schätzen in seine Heimat zurück. Oder die Heimkehr der Troja-Veteranen verzögerte sich, weil die Gefahren, die Unwägbarkeiten und Unwirtlichkeiten des Reisens zur See manch einen irgendwohin verschlugen, wohin er nicht wirklich wollte. Dies war scheinbar auch das Schicksal des Odysseus.

Zwei Jahre auf See, acht Jahre Urlaub

Auf fast zehn Jahre Krieg gegen Troja folgten für Odysseus weitere zehn Jahre Abwesenheit von seiner Heimat. Über die Meere gefahren ist unser Held allerdings lediglich knapp zwei Jahre. Die restliche Zeit verweilte er bei den offensichtlich unwiderstehlichen Frauen Kirke und Kalypso auf deren Inseln. Irgendwann war er dann aber der Kalypso überdrüssig und entfernte sich im selbstgebauten Floß übers Meer Richtung Heimat Ithaka. Am zwanzigsten Tag landet er auf der Insel Scheria, dem heutigen Lefkada, bei den Phäaken. Diese brachten ihn schließlich mit reichen Gastgeschenken bedacht zurück in sein über alles geliebtes Ithaka. Per Schiff versteht sich, sie waren ja die besten Schiffbauer der damaligen Welt.

Homer’s Odyssee liest sich nicht wie das Logbuch eines Entdeckers von großem Format. Vielmehr enthält sie – dem damaligen mainstream entsprechend – etliches Seemannsgarn in Form von schier unglaublichen Geschichten. Diese lesen sich reißerisch, fabelhaft und beeindruckend. Wogegen der heute weithin unbeachtete eigentliche Kern der Geschichte, die Heimkehr, detaillierter, poetischer und auf seine Art viel spannender erzählt wird, als die Räubergeschichten, die teilweise hart an der Lächerlichkeit vorbeischrammen. Das überreizte Getue und Geschehen in diesen action-Geschichten hat leider bei den meisten Lesern zu einer nur oberflächlichen Betrachtung geführt, weshalb die Odyssee weitab von ihrem eigentlichen Thema aktuell nur als die Erzählungen spannender Abenteuer eines alten Seebären mit deutlich überschießender Phantasie gesehen wird. Das wird weithin gerne auch von Wissenschaftlern akzeptiert, wohl, weil sie ihnen so keine Arbeit machen kann.

Die hemmungslose Gier der Freier

Sorgfältig betrachtet ist sie ohne Zweifel die detaillierte Nacherzählung tatsächlicher Begebenheiten. Der gesamte Inhalt zeigt klar, dass es sich um die Geschichte eines großen Mannes handelt, der tatsächlich existiert und der so manches erlebt hat. Der in sein Eigentum zurückkehrt, aber sich dieses nur mit Klugheit, Geschick und Mut erst wieder zurückerobern muss. Nicht, weil es ihm nicht mehr gehörte, sondern weil eine gierige Hundertschaft von notgeilen „Konkurrenten“ gerade zu dieser Zeit im Begriff war, sich alles, was dem abwesenden König Odysseus gehört, ohne Skrupel – auch über Leichen gehend – unter den Nagel zu reißen, weil sie nicht mehr mit seiner Rückkehr rechnen. Wieder geht es, wie schon bei Helena, um eine reiche, schöne und mächtige Frau, Penelope. Die Gattin des Odysseus.

Alle Untaten der Freier erfolgen unter dem Deckmantel der Brautwerbung um eben diese Penelope, die sich seit drei Jahren durch hohe List gegen die Brautwerbung wehrt. Sie gab an, vor der Neuverheiratung noch das Totengewand für Laertes, ihren Schwiegervater weben zu wollen. Das war fake. Nun ist ihre List enttarnt und sie muss aufgeben. An die Heimkehr Ihres Gemahls glaubt auch nur mehr sie. Geleitet von „göttlichem Beistand“ gelingt Odysseus aber die Rückkehr. Seine Widersacher aber werden keine Sekunde zögern, ihn zu töten, falls er doch heimkehrte und sie seiner habhaft würden. Sie wollen Penelope und wollen abcashen, mit allen Mitteln. Odysseus ist vollkommen klar, dass ihn dieses Schicksal erwartet. Dementsprechend weiß er, was er zu tun hat, wenn er heimatlichen Boden betritt.

Odysseus weiß aber auch genau, was alles er seinem engsten Umfeld zu erzählen hat. Er weiß natürlich auch ganz genau, dass er seine extrem lange Abwesenheit schlüssig und zweifelsfrei zu begründen hat, kam er doch ohne seine Gefährten als einziger Überlebender nach Hause. Dies tut er denn auch im Epos recht ausführlich, ohne zu vergessen, dass er Geschichten liefern muss, die auf großen Erlebnissen beruhen, die sonst noch niemand beschert waren und die wohl auch künftig keinem widerfahren würden. In seinen „Räubergeschichten“ macht er sich so gekonnt zum unbesiegbaren Helden und offensichtlich hat das Publikum seiner Zeit nach diesen Phantasien genauso gegiert, wie die Menschen heutiger Zeit.

Dass die eigentliche Story die Wiedererlangung seiner Herrschaft auf Ithaka war, tritt bedauerlicher Weise vollkommen in den Hintergrund. Nichtsdestotrotz, Odysseus und Homer waren ohne Zweifel Superstars ihrer Zeit. Nur, mit einigen gut erfundenen Geschichtchen – und seien sie noch so toll erzählt – hätten sie ihre Zeitgenossen und deren Nachfahren niemals nachhaltig überzeugen, geschweige denn faszinieren können. Auch wenn dieses Seemannsgarn super ankommt und natürlich äußerst hilfreich für die Begründung eines wichtigen Themas waren, nämlich die Tatsache, warum er, Odysseus, all seine Gefährten und sämtliche Ausrüstung verloren hat. Er muss für alle Verluste an Mensch und Material als unschuldig rüberkommen.

Die damalige Gesellschaft erwartete über das Literarische hinaus von Homer vor allem und ganz besonders die wahrheitsgetreue Wiedergabe dessen, was Odysseus tatsächlich erlebt hat. Vor allem aber lag es im Interesse des Helden, darzulegen, dass er bei seiner Wiedererlangung der Herrschaft auf Ithaka alles richtig gemacht hat und dass alles, was er getan hat, rechtens war. Und weil das Epos im Kern von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, von Moral und Ehrlosigkeit, von Treue und Niedertracht, aber ganz besonders von der tiefen Gottesfürchtigkeit der Menschen und der Allmacht der Götter handelt, lag über allem der unverbrüchliche Anspruch auf fehlerlose Tradierung des über Generationen Gültigen.

Ob Homer denn der erste war, der diese Überlieferungen für die Nachwelt zu Papier brachte, ist einerseits nicht von Belang, muss aber mehr als bezweifelt werden, wenn man schon danach fragt. Wann immer die Odyssee oder die Ilias aufgeschrieben wurden, es ändert nichts an deren Authentizität. Tatsächlich ist es so gut wie sicher, dass Homer oder seine Vorleute die so exakt abgebildeten Geschehnisse direkt von Odysseus erzählt bekamen. Wie sonst könnte eine derartige Präzision möglich sein. Demzufolge ist die Tatsache, wie offensichtlich unverändert all die Erzählungen uns über mehr als drei Jahrtausende hinweg überliefert wurden, eigentlich nicht wirklich überraschend, sondern im Gegenteil nur folgerichtig. Eben ganz nach der Wahrheit.

In der Zeit des Odysseus haben sich Lebensumfeld und Lebensgewohnheiten der Menschen über die Jahrhunderte nicht oder nur geringfügig geändert. Mündlich Tradiertes galt als unantastbar und heilig. Deshalb scheint es nur logisch, dass sogar über mehr als drei Jahrtausende Mutationen des Urtextes weder in der mündlichen Überlieferung, noch schriftlich existieren. Das kennt man auch aus bei Legenden und Religionen (z.B. Judentum).

Jeder vernunftbegabte Mensch weiß, dass früher wie heute Liedtexte, Legenden ja sogar Sagen nicht einfach willkürlich abgeändert wurden. Damals wie heute käme wohl niemand auf diese abartige Idee, schon weil das Publikum derartiges gnadenlos bestraft. Letztlich gilt das Original, und Abweichungen werden als das kommuniziert, was sie tatsächlich sind: Verfälschte Kopien. Es kann also getrost ausgeschlossen werden, dass die Epen des Homer nur Mutanten eines verlorenen Originals sind.

Die Epen waren eben die „Bibeln“ unserer Vorfahren. Allein schon deshalb wäre Homer von seinen Zeitgenossen mit Schimpf und Schande bedacht und aus den Häusern (Konzerthallen) gejagt worden, hätte er den Pfad der Wahrheit verlassen. Kein Hahn hätte mehr nach ihm gekräht und wir hätten von seiner Existenz nie erfahren. Genau das Gegenteil aber ist der Fall. Alle kennen Homer, so wie bis zum heutigen Tage fast jeder Bewohner von Ithaka und auch im übrigen Griechenland die homerischen Epen besser kennt, als die Geschichte der Moderne.

Wesentliches verliert sich nicht

Während Märchen von der famosen Phantasie seiner Erfinder leben, leben Homer und Odysseus von der geradezu sklavischen Verpflichtung zur Wahrheit und präzisen Wiedergabe des damals Realen. Davon ausgenommen natürlich die bekannten „Räubergeschichten“ in der Odyssee. Und das ist mehr als schlüssig, wenn man berechtigter Weise annimmt, dass sich in den angeblich dreihundert oder knapp vierhundert Jahren oder auch mehr zwischen dem, was sich zugetragen hat und dem Zeitpunkt der angeblichen Aufzeichnung der Geschehnisse zumindest geografisch und topografisch wohl kaum etwas Gravierendes verändert hat. Wenn denn diese Versuche zeitlicher Zuordnung tatsächlich stimmen sollten. Was aber, wie hier ausdrücklich zu betonen ist, mehr denn je als sehr zweifelhaft darstellt.

Die Diktion der Odyssee lässt eben bei genauer Betrachtung keinen Zweifel offen, dass Odysseus der Erzähler ist. So hält er, wie schon oben aufgezeigt, immer wieder Zwiesprache mit seinem treuen Sauhirt Eumäus und anderen Gesprächspartnern. Das ist höchste stilistische Kunst. Für die Epen als Stilmittel von Homer erfunden? Wohl kaum! Dieses raffinierte Stilmittel als Geniestreich der Erzählkunst plötzlich zur Steigerung des authentischen Charakters der Geschichten einzusetzen, ist nicht die Erfindung des damaligen Autors. Im Gegenteil. Es war kein Kunstkniff, sondern ein Faktum, das sich schlicht aus dem Willen zur Abbildung der unverfälschten Wahrheit des Gesagten ergibt.

Das Abstruse ist der Feind der Wahrheit

Ganz allgemein gilt: Dort, wo sich die Sprache nicht oder kaum verändert, heißen die Berge, die Täler und die Orte auch heute noch (ungefähr) genau so, wie vor vielen Jahrhunderten. Das war immer so und gilt auch für die homerischen Epen. Ithaka ist Ithaka. Somit ist es geradezu denkunmöglich, dass Odysseus und Homer ihren noch dazu mächtigen Zeitgenossen, die ihre ersten Adressaten sind, Geschichtchen auftischen, die schlicht erfunden sind. Weshalb sollen sie ein Ithaka im Irgendwo erfinden? Welchen Sinn soll das machen? Weshalb sollten Homer und Odysseus von Ithaka so detailgetreu erzählen, dass selbst einen Laie erkennt, wie die Angaben in der Odyssee auch heute noch mit den Gegebenheiten auf Ithaka übereinstimmen? Eben, weil die Erzählungen in dieser Detailtreue gar nicht erfunden sind und nicht erfunden sein können. Weil niemand sie erfinden wollte und erfinden musste. 

Wäre es anders, hätten sie ihre Landsleute und Zeitgenossen dafür ohne Zweifel zur Rechenschaft gezogen. Warum sollten diese sich verarschen lassen? Dennoch: Es wird behauptet, Ithaka gibt es nicht oder Ithaka ist eigentlich Paliki oder Kephalonia oder sonst irgendeine Gegend irgendwo am/beim Mittelmeer. Das sind durchgängig die herrschenden Lehren. Eigentlich höchst erstaunlich. Es widerspricht so richtig jeglicher Vernunft, wenn man Homer, wie es ihm eigentlich als anerkanntem Autor gebührt, ernst nimmt und vor allem, wenn man die Odyssee im Original wirklich genau liest. Dies sollte man aber nicht nur in einigen Teilen oder nur ein Mal tun, um mitreden zu können, sondern permanent.

An die Adresse der Verfechter der „Homerischen-Märchen-Thesen“ sei der gedankliche Anstoß erlaubt, dass die Erfolglosigkeit der Suche nach Odysseus gerade deshalb so ist, wie sie ist, nämlich erfolglos, weil man den Worten Homers nicht glaubt. Warum sollte die Insel Ithaka, die nach unseren heute verfügbaren und verbürgten Informationen schon immer so hieß, denn irgendwann nicht so geheißen haben? Warum soll Ithaka irgendwann eine andere Insel oder Gegend dieses Namens gewesen sein? Warum und wann soll dann das heutige Ithaka zu Ithaka geworden sein? Das wäre so, als hießen die Britischen Inseln plötzlich Irland. Das eigentliche Irland hieße ab dann Britische Inseln. Sehr Grotesk! Für bestimmte Wissenschaftler aber in Sachen Homer bzw. Odysseus offensichtlich logisch.  

Die Wissenschaft liebt Absonderliches

Abartig, gewiss, aber offensichtlich anerkannte und kaum belachte Praxis, wenn es um Homer oder Odysseus geht. Umso mehr sei diese Auffälligkeit hier angeprangert. Die Erfolglosigkeit bestimmter Personen bei einschlägigen Versuchen, Thesen um jeden Preis zu kreieren, um mediale Aufmerksamkeit zu erheischen, ist sicher nicht der geeignete Weg, die Existenz des Odysseus zu beweisen. Vermutlich würde die Theorie über die Neubenennung von Irland bzw. den Britischen Inseln selbst den kühlen Inselbewohnern in beiden Ländern nicht nur ein müdes Lächeln entlocken. Wer weiß, vielleicht würde diese These dem einen oder anderen Patrioten nicht nur die Zornesröte ins Gesicht treiben. Durchaus denkbar, dass es unter Umständen zu Protesten oder gar Tumulten käme. Alles anders bei Ithaka und Wissenschaft.

Die Reaktionen wären heutzutage – besonders in den Neuen Medien – verheerend für den, der solchen Humbug in die Welt setzt. In Ansehung dessen scheint es mehr als angebracht, Homer doch wieder Glauben zu schenken. Und es sollte wieder davon ausgegangen werden, dass nur Homers Angaben bis ins letzte Detail wahr und topo/geografisch korrekt sind. Im Lichte dieser Tatsache sei die Heimkehr des Odysseus nach Ithaka daraufhin mit aller Sorgfalt und Akribie untersucht. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, wie die vorliegende These eindrucksvoll belegt. Was allerdings zur Untermauerung der hier dargelegten These derzeit noch fehlt, sind tatsächlich Ausgrabungen an den bezeichneten Orten auf Ithaka.

Seemannsgarn versus Wahrheit  

Was nun damals zu Lebzeiten des Odysseus tatsächlich gelaufen ist und vor allem, wo die Schauplätze des damaligen Geschehens realiter waren, sei Gegenstand der Überlegungen. Umso mehr, als Homer selber die damals ehernen Tugenden eines achtenswerten Erzählers klar festgelegt hat: Wahres zu berichten. Allerdings muss jedem, der sich mit der Odyssee ernsthaft auseinandersetzt klar sein, was darin Seemannsgarn und was Wahrheit ist.

Diese Trennlinie zu ziehen ist für einen normalverständigen Menschen wirklich nicht schwer. Wer sich die Mühe macht und die Gesänge aufmerksam liest und analysiert, wird zunächst schnell feststellen, dass fast drei Viertel der Odyssee darüber handeln, wie sich Odysseus nach seiner heimlichen Landung auf Ithaka in wohlüberlegten Schritten sein Eigentum wieder erkämpft. Das ist der Kern der Geschichte, um diese Inhalte geht es.

Die Seeräubergeschichten, die schier unglaublichen Abenteuer, die fast jeder kennt, dienen der Illustration der knapp zwei Jahre langen Seefahrt und der Verklärung des Helden. Das ist allerdings nicht die einzige Funktion dieser Fiktion. Odysseus erklärt und rechtfertigt damit, dass er sämtliche Gefährten und alle Ausrüstung verloren hat. Ohne persönliche Schuld durch höhere Mächte. Das ist immens wichtig. Man stelle sich nur vor, eine große, teure Expedition bricht in unbekannte Lande auf. Und nur ein einziger schafft es zurück in die Heimat. Wenn dieser Einzige dieses Desaster nicht ausführlichst, schlüssig und zweifelsfrei erklären kann, ist er ganz schnell im übelsten Geruch aller nur erdenklichen bösartigen Vermutungen und Unterstellungen über den Verbleib aller anderen und des teuren Equipments. Leicht auszumalen, was mit einem solchen Heimkehrer passiert.

Ihm antwortetest du, Eumäus, Hüter der Schweine:
Greis, untadelig ist das Geheimnis, so du erzählest;
Und kein unnütz Wort ist deinen Lippen entfallen.

XIV. Gesang, Kapitel 38, 507 bis 509

Wer suchet, der findet

Die detailreichen Angaben Homers einer ganz genauen Betrachtung und Reflexion zu unterziehen, lohnt weit mehr, als schwurbelige Theorien über Odysseus oder Homer und sein Werk aufzustellen und diesen anzuhängen. Auch leugnen hilft nicht. Denn es ist schlicht zu leicht, zu behaupten, dass alles nur blanke Phantasie ist, was Homer uns erzählt. Schwer wird es erst, wenn man die Inhalte als wahr ansieht und nach mehr als 3000 Jahren die Beweise dafür liefern will. Stellen wir also an den Anfang neuerlich die Frage, weshalb so verbreitete Zweifel daran bestehen, dass das heutige Ithaka das damalige Ithaka ist.

Diese Frage scheint per se kurios, aber nachdem die führenden oder zumindest die meisten Proponenten der (selbsternannten) Odysseus-Erklärer der Jetztzeit dieser Ansicht zuneigen, erfordert diese interessante Frage tatsächlich eine angemessene Erörterung. Da es auf Ithaka kaum Funde gibt, welche die Existenz des Odysseus belegen, bleiben vorerst weiterhin nur die Epen als Lieferant für Beweise übrig. Vieles darin wurde missinterpretiert und führte zu falschen Schlüssen. Das ist sehr schade und wäre vermeidbar gewesen, hätte man sich tatsächlich sehr intensiv mit den Texten befasst. Aber warum sollten sich die Odysseus-Leugner überhaupt intensiv mit den Epen auseinandersetzen? Und manche davon scheinen außer den „Räubergeschichten“ nicht wirklich viel aus der Odyssee zu kennen. Aber der Reihe nach:

Felder sind keine Inseln

Als Odysseus über das Meer schiffend bereits nahe seiner Heimat Ithaka von Westen her kommend bei Homer sagt, er habe schon „die Felder Ithakas“ in Sichtweite gehabt, verleitet dies natürlich sehr leicht dazu, dies so zu interpretieren, dass er die Insel Ithaka gesehen hat. Sagt er aber nicht und hat er auch nicht. Er sah nur die Felder Ithakas. Das ist etwas gänzlich anderes und Homer hätte in seiner sonst durchgängig präzisen Diktion gewiss nicht nur von den Feldern Ithakas gesprochen, hätte er die Insel gemeint. Er hätte sicher eine Bezeichnung samt Attribut(en) gewählt, derer er sich auch sonst bei der Inselbeschreibung bedient. Beispielsweise „die felsichte“ oder „die waldichten Höhen Ithakas“ oder Ähnliches.

Die quasi-Attribution der Insel Ithaka mit „Felder“ kommt sonst nie im homerischen Text vor, obwohl dieser reich an Redundanzen diesbezüglich ist. Noch mehr aber befremdet die kühne Interpretation dieser Textstelle als Ithaka-Sichtung deshalb, weil Ithaka weder heute noch damals reich an Feldern ist und war und weil vor allem von keinem Punkt des die Insel umgebenden Meeres aus Felder von Ithaka sichtbar sind. Schon gar nicht von Westen kommend, denn westlich von Ithaka erstreckt sich die Meerenge zwischen Kephalonia und Ithaka (der Sund) und von diesem aus ist ausschließlich die sehr hohe und extrem felsige Steilküste der westlichen Inselseite sichtbar.

Dulichion ist der Peleponnes

Selbst wenn diese beschriebene Situation unweit der Küste des nördlichsten Teiles der Insel Ithaka stattgefunden hätte, wären für Odysseus dort keine Felder sichtbar gewesen, sondern nur schroffe Felsen. Das allerdings war in der betreffenden Szene glaublich nicht der Fall. Odysseus sah eben nur die Felder Ithakas und spricht hier von der (Halb)Insel Paliki im Westen Kephalonias, wo er, und somit Ithaka, einige seiner zahlreichen agrarischen Besitzungen hatte. Mehrfach und ausführlich in der Odyssee beschrieben.

Aus Dulichion wiederum kommen zweiundfünfzig Freier, mehr als das Doppelte, als aus Same (Kephalonia), woher achtundvierzig Brautwerber stammen. Somit muss Dulichion um Welten größer sein, als Kephalonia (Same). Und nachdem Dulichion eine Insel ist und noch dazu mit Abstand die ausgedehntesten Ländereien des Odysseus aufweist, kann es sich nur um den Peleponnes oder zumindest eines großen Teiles davon im Nordwesten handeln. Dies ist nach allen bezughabenden Angaben zu Größe, Anzahl der Freier, Entfernung, Herden und Äcker, Topografie und Geografie in der Odyssee mit Abstand die wahrscheinlichste Annahme.

Eher mutieren Ortsnamen über drei Jahrtausende durch sprachliche Einflüsse oder volksethymologische Bedeutungswandel, als dass ein Inselname – ohne dass dies von der Geschichtsschreibung oder anderen Quellen, wie zum Beispiel Seekarten, be- oder vermerkt wird – auf eine andere Insel einfach stillschweigend übergeht. Insbesondere, wenn diese Insel für die Seefahrt von Bedeutung ist. Und das war Ithaka immer. Homer wäre wohl der Letzte gewesen, der eine solche, auch für damalige Verhältnisse bedeutende bis sensationelle Änderung, nicht wortreich erwähnt und begründet hätte, wäre dies der Fall gewesen. Falls er erst mehrere Jahrhunderte nach Odysseus gelebt hat, muss somit der Namenswechsel nach Homer passiert sein. Leider weiß die Geschichte davon aber nichts.

Ithaka war, ist und bleibt Ithaka

Zudem ist es wohl kaum vorstellbar, dass man den Seefahrern damals so mir nichts dir nichts zugemutet hätte, dass zwei Inseln plötzlich anders heißen, und dass ein Name von einer zur anderen gewandert wäre und umgekehrt. Homer benennt explizit das heutige Ithaka und nichts anderes. An einer anderen Textstelle sieht Odysseus als Schiffbrüchiger die Feuer Ithakas. Er sah die Berge und „den Rauch“ Ithakas, auf womit er logischer Weise die Leuchtfeuer für die Seefahrt bezeichnete. Damals waren die Feuer im Norden und auch im Sund für die Seefahrer lebenswichtig und Realität. Homers Ithaka ist und bleibt Ithaka. Was denn sonst!

All jenen, die der Meinung anhaften, Ithaka ist nicht Ithaka und die diese Behauptung als der Weisheit allerletzten Schluss ansehen, sei der Versuch anheimgestellt, beispielsweise aus Zypern Kreta zu machen und Kreta vielleicht neu als Minoa zu bezeichnen. Man kann sich unschwer ausmalen, welche Reaktionen es in diesem Fall rund um die Welt gegeben hätte und heute geben würde. Sollte das in der Zeit des Odysseus oder des Homer in den Jahrhunderten danach anders gewesen sein? Schlicht denkunmöglich, reine Phantasie ohne jeglichen Hinweis oder gar Evidenz.

Odysseus weiß genau, was er sagt und er sagt, was ist. Wenn er Felder sieht, sieht er Felder. Wenn er Leuchtfeuer auf den Bergen des „felsichten Ithaka“ sieht, ist das die Wiedergabe realer Topoi. Wie an einer weiteren Textstelle, wo folgendes zu lesen ist: Odysseus sieht das Land der Phäaken im Meer treibend von seinem Floß aus. Er kommt von Westen. Scheria liegt dunkel daliegend wie ein mit der Wölbung nach oben gedrehter Schild. Auch das ist wahr, schlüssig und nachvollziehbar, wenn Scheria Lefkada ist. Nähert man sich Lefkada auf dem Meer von Westen, liegt diese Insel genau so da. Damals wie heute. Nichts leichter, als das nachzuprüfen. 

Sicher ist vielmehr, dass Homer und seine Zeitgenossen ihre Schilderungen aus der Odyssee nur von einem einzigen Menschen herleiten können. Odysseus. Er und nur er allein war in der Lage, all diese Ereignisse zu erzählen. Homer ist in jedem Fall der Nacherzähler als Dichter, in Hexametern, was seine Bedeutung nicht geringer macht.

Schließlich war Odysseus mit seinen Gefährten in diversen Gegenden unterwegs gewesen. Er hatte sie alle im Laufe der Zeit verloren und blieb als einziger übrig. Wer genau nachrechnet, kommt allerdings schnell darauf, dass Odysseus gut sieben Jahre auf Ogygia von der Nymphe Kalypso „festgehalten“ und gut ein weiteres Jahr von der Göttin/Zauberin Kirke auf der Insel Aiaia gefangen gehalten wurde.

Bleiben in Summe also weniger als zwei Jahre auf See mit seinen Kameraden übrig. Zudem hat seine Armada offensichtlich keine nennenswerte Beute gemacht. Eine fürchterliche persönliche Niederlage für den Helden Odysseus! Vielleicht blieb er gerade deshalb so lange auf Ogygia, weil er die unbeschreibliche Schmach dieser krachenden Niederlage seinem Volk und vor allem sich selber ersparen wollte. Einerlei. Nachdem er dann endlich nach seiner Landung auf Ithaka alle Hürden überwunden hatte und mit Penelope glücklich vereint war, kann davon ausgegangen werden, dass er nicht nur in der ersten Nacht seiner Penelope ausführlichst über das Erlebte berichten musste, sondern nachfolgend jederzeit allen anderen auch.

Göttlicher Meister der Erzählkunst

Sicher wollte man nicht nur im engsten Umfeld die ganze Wahrheit hören, sondern allenthalben, wo immer er hinkam oder zu Gast war. Sicher wurde er mit allen möglichen Fragen gelöchert. Wer, wenn nicht er, wäre in der Lage gewesen, die Abenteuer von zwanzig bewegten Jahren zu schildern. War er doch von niemand geringerem als von der Göttin Athene als wortgewaltigster erfindungsreichster Erzähler bezeichnet worden, der den Vergleich mit den Göttern in dieser Disziplin nicht scheuen musste.

Und sie redet‘ ihn an, und sprach die geflügelten Worte:

Geist erforderte das und Verschlagenheit, dich an Erfindung

Jeglicher Art zu besiegen, und käm‘ auch einer der Götter!

Oberlistiger Schalk voll unergründlicher Ränke,

Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung

Und erdichtete Worte, die du als Knabe schon liebtest?

Aber lass uns hievon nicht weiter reden; wir kennen

Beide die Kunst: du bist von allen Menschen der erste

An Verstand und Reden, und ich bin unter den Göttern

Hochgepriesen an Rat und Weisheit.

XIII.  Gesang, 35.  Kapitel, Verse 290 bis 299

Wie die Odyssee eindrucksvoll vor Augen führt, gierten die Menschen schon damals nach spannenden Stories, nicht anders, als heute. Fazit: Odysseus wurde mangels Medien im heutigen Sinn quasi herumgereicht und war wohl bis an sein Lebensende gern gesehener Gast in allen Häusern der Oberschicht und sicher hingen unzählige Menschen an ebenso unzähligen Tagen an seinen Lippen und lauschten seinen Erzählungen. Und wo er nicht selber erzählte, taten dies (fahrende) Sänger.

Zuallererst aber musste er die Geschichte samt allen Details der zwanzig Jahre Abwesenheit besonders einem Menschen schildern. Seiner Frau Penelope! Die sehr genau wissen wollte, was da eigentlich passiert ist und warum das alles so lang gedauert hat. Schließlich war sie die am meisten Leidtragende an der ganzen Misere. Schon in der ersten Nacht, die er nach seiner Heimkehr mit ihr verbrachte, musste er ihr – trotz massiver Erschöpfung nach der Tötung von mehr als hundert Freiern – bis zum Morgengrauen von Troja und seinen angeblichen Irrfahrten ausführlichst erzählen. War sicher nicht leicht für ihn, aber wen wundert’s?

Bestimmt hätte Odysseus noch gut zuwarten können, wem immer umfassende Erklärungen über seine Reise abzugeben. Sicher nicht darauf warten wollte und konnte aus gutem Grund wie gesagt Penelope. Natürlich werden nun in der Folge alle Heldentaten von ihm ausführlich abgehandelt. Auch die ertragenen Leiden und überstandenen Abenteuer kommen in den Schilderungen nicht zu kurz.

Allerdings fallen die actionreichen Phantsiegeschichten von den Abenteuern des Helden in der Odyssee sehr kurz aus, obwohl sich die Abwesenheit von der Heimat wie gesagt über ganze zehn Jahre erstreckte. Im Vergleich zum Bericht über die eigentliche Heimkehr auf der Insel, mutet das ziemlich schmächtig an, betrachtet man den Umfang der Odyssee insgesamt. Rund drei Viertel der gesamten Odyssee beschreiben die wenigen Tage der Heimkehr von der Landung auf Scheria bis zur Tötung der hundertacht Freier.

Mord an über hundert Königen

Letztlich sind all die „Seeabenteuer“ in fernen Orten, von denen Odysseus berichtet, eher Geschwurbel und für damalige und selbst heutige Verhältnisse nicht wirklich zur Nachprüfung geeignet. Sie sind, was sie immer waren: knorriges Seemannsgarn, während seine Rückkehr nach Ithaka in allen Details überprüfbar ist. Man darf auch nicht übersehen, dass es bei der Heimkehr und der Ermordung von über hundert Königen um etwas ging, von denen ein Großteil der griechischen Welt direkt oder indirekt betroffen war. Schließlich stammten die 108 ! Freier aus allen möglichen achaiischen Gegenden und kamen nur aus den besten Häusern.

Odysseus hat mit der Tötung der Freier die Elite der Griechen ausradiert. Das war keine Kleinigkeit und hätte katastrophale Folgen gehabt. Man stelle sich nur in der Jetztzeit vor, ein Machthaber dieser Welt würde die Oberhäupter von 112 Staaten bei einer Sitzung der 193 Mitglieder der Vereinten Nationen töten…

Eimal mehr: Der fragliche Zeitraum der Rückkunft des Odysseus nach Ithaka vom 16. bis 21. April 1178 v. Chr., also die Zeit ab der Landung auf Ithaka bis zum Sieg über alle hundertacht Freier, stellt den weitaus überwiegenden Teil der Odyssee dar. Sechs Tage! Darüber handelt die Odyssee eigentlich. Nur diese Ereignisse, die in diesem engen Zeitfenster passieren, werden bis ins allerletzte Detail beschrieben. Warum? Es geht darin um all jene unumstößlichen Werte, die den Menschen der damaligen Gesellschaft alles bedeuteten. Es geht um die wirtschaftliche, ethische, moralische und religiöse Basis des Lebens der damaligen Kultur in der Welt der Achaier.

Der Beweis für Rechtschaffenheit

Die Schilderung aller Details der Gefahren und Taten in Zusammenhang mit der Heimkehr des Odysseus nach zwanzig Jahren in sein Königreich, ist nur der hochspannende Rahmen dafür. Und es ist die Botschaft des Odysseus an alle Völker, aus deren Reihen ein toter Freier stammt, dass er, Odysseus, rechtens gehandelt hat, gepaart mit dem Appell, trotzdem Frieden mit ihm zu halten. Was ihm letztlich am meisten am Herzen lag (und wovon er denn am liebsten sprach) war seine – allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgreiche – Rückkehr nach Ithaka. Schließlich war er der König der Insel und musste die Wahrheit vor alles andere stellen. Schon aus Gründen der Glaubwürdigkeit für seine unbeugsame Liebe zu Volk und Vaterland. Und aus Gründen der Beweisführung für seine Rechtschaffenheit.

Was ihm sicher so nebenbei auch aus psychohygienischen Gründen seiner Frau und Familie gegenüber wohl ganz hervorragend in den Kram passte. Schließlich galt es ja in erster Linie, wahrhaftig und schuldlos zu sein, allseits Frieden zu stiften und das Verbindende vor das Trennende zu stellen. Kyklop, Sirenen, Besuch in der Unterwelt und alles andere Seemannsgarn langten für das unsterbliche Heldentum ohnehin locker. Das war eh schon ziemlich an der Grenze zum Lachhaften, was dem Ganzen aber – offensichtlich damals wie heute – nicht wirklich geschadet hat. Was immer ihn aber zu seiner Abwesenheit bewogen oder gezwungen haben mag, sei dahingestellt und ist für die Frage, wo genau er denn bis zur heimlichen Rückkehr nach Ithaka abgeblieben ist, von nachrangiger Bedeutung. Es geht im Kern ausschließlich darum, dass er wieder daheim und unumstrittener König ist.

Entscheidend ist, dass er am Ende nach zwanzig Jahren Abwesenheit als einziger Überlebender seine Heimat wiedergesehen hat. Das ist schon was ganz Großes und weist ihn als Mensch mit außerordentlichen Fähigkeiten in allen Belangen aus. Von nichts anderem spricht die Odyssee, wenn sie über ihn berichtet oder er über sich. Er ist gottgleich und doch nur Mensch. Das verschafft ihm Autorität und Anerkennung. Er ist aber auch ein Wesen voll von Ängsten, Sorgen und Zweifeln. Sicher auch von einer exzellenten Physis, kraftvoll und sehr mutig, aber doch nie einer, der nur mit roher Brachialgewalt allen Widrigkeiten entgegentritt und sie überwindet.

Im Gegenteil, er ist der vorsichtig Abwägende, der Gefahr und Risiko exakt auslotet und dann strategisch handelt. Letztlich obsiegt er mit Verstand und Schlauheit und behält so am Ende in fast jeder Situation die Oberhand. Aber eben nicht immer. Was immer ihn gut sieben Jahre auf Ogygia gehalten hat, sei dahingestellt. Calypso und ihre Anziehung waren es zumindest nach einiger Zeit nicht mehr. Daher verlässt er sie und die Insel auf einem selbstgezimmerten Floß, um mehr als sechshundert lange Kilometer allein über das Meer nach Ithaka zu fahren. Was für eine Sehnsucht muss in einem Menschen stecken, der ein derartiges Risiko und Abenteuer auf sich nimmt, nur um seine Heimat wiederzusehen!

Die letzte Chance

Die Tatsache, dass es auf Ogygia Werkzeug wie Äxte, Bohrer und vieles mehr gab, zeigt, dass man internationalen Handel trieb oder gar auf der Insel selber diese Güter herstellen konnte. Odysseus war demnach eigentlich nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten, wenngleich wohl nur wenige Schiffe auf Ogygia, dem heutigen Malta, anlegten. Wozu auch, die Handelsrouten liefen mit wenigen Ausnahmen an Malta vorbei. Warum aber ist er nicht einfach „abgereist“ und per Schiff zurück nach Ithaka? Die Antwort ist: er war zu wertvoll, als dass er sich einem fremden Schiffskapitän anvertrauen hätte können. Als erfahrenem Seeräuber war ihm das mehr bewusst, als jedem anderen.

Die Sitten waren rau und ein Mann von der Physis, Intelligenz und dem Alter des Odysseus wäre für unermesslich viel Geld von jedem Seefahrer in die Sklaverei verkauft worden und das wäre es dann für Odysseus gewesen. Erst als er ohne echte Aussicht auf Rettung Anfang des achten Jahres auf Ogygia sein trauriges Leben fristet und unter schwersten Depressionen leidet, gelangt er einmal mehr an einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Dasein. Er rafft sich noch einmal auf, sein Leben grundlegend zu ändern. Kompromisslos! Koste es, was es wolle und koste es auch sein Leben. Es ist seine letzte Chance.

Beinahe zehn Jahre Trojanischer Krieg, ein Jahr von der Zauberin Kirke auf der Insel Aiaia gefangen, über sieben Jahre – angeblich – gegen seinen Willen auf der Insel Ogygia in den Fängen der Nymphe Kalypso. In Summe lächerliche, nicht einmal zwei Jahre auf See mit seinen einstigen Freunden und Gefährten, die er nun alle verloren hat. Nach fast zwanzig Jahren fern seiner Heimat Ithaka ist Odysseus der einzige Überlebende einer aberwitzigen angeblichen Irrfahrt über die Meere. Er hängt auf der Insel Ogygia fest. Er hofft jeden Tag auf ein Schiff aus der Heimat, das anlegt und ihm die sichere Gelegenheit bietet, zu fliehen. Seine Hoffnungen bleiben mehr als sieben Jahre unerfüllt.

Aber er weiß als erfahrener Seefahrer auch genau, wo die Insel Ogygia liegt. Mitten im Meer, dem heutigen Mittelmeer, wo kein vernünftiger Kapitän hinfährt, weil es dort nichts zu holen gibt und weil rundherum an den Küsten überall Städte und Kulturen existieren, die schon seit jeher in regem Austausch miteinander stehen. Auf dieser gottverlassenen Insel gibt es nicht einmal eine Stadt. Nur die Nymphe, ihr Gefolge und ihre Behausung, die Grotte Ghar Dalam. Es lebt sich auf der Insel zwar wie im Paradies, Flora und Fauna bieten ein wahres Schlaraffenland. Allerdings nur, wenn man nicht mehr anstrebt, als die Befriedigung menschlichen Grundbedürfnisse.

Bereit zum Aufbruch

Aber das ist für einen Odysseus die Höchststrafe, an der er langsam zerbricht. Es bleibt ihm nur die Flucht. Per Floß. Schiffe und Mannschaft gibt es auf Ogygia, dem heutigen Malta nicht. In nur vier Tagen baut er sich das rettende Gefährt. Alles an Werkzeug und Material, das er für den Bau des Floßes benötigt, ist auf der Insel vorhanden. Kalypso stellt es ihm zur Verfügung, aber nur, weil Zeus es über den Götterboten Hermes so befohlen hat. Seine Kunstfertigkeit in allen Dingen des täglichen Lebens hat er sich von den Besten der Besten ihrer Fächer in seinem bisherigen Leben abgeschaut und erlernt. Am fünften Tag legt er von der Insel ab.

Er ist über die Maßen intelligent und athletisch. All das hat er über die vielen Jahre auch immer wieder bewiesen. Jetzt liegen über 650 Kilometer Fahrt über das Meer vor ihm, um an heimatliche Gefilde zu gelangen. Das ist Hochrisiko pur. Aber nichts wird Odysseus davon abhalten. Endlich stehen die Zeichen günstig, er hat alles wohlbedacht und vorbereitet. Ein solches Wagnis einzugehen, bedeutet in jedem Fall eine Höchstleistung in allem. Wieder kann alles passieren, womit das unendliche und unberechenbare Meer an Gefahren aufwartet. Das weiß Odysseus und trotzdem macht er sich auf den Heimweg.

Er muss sein Floß nach Nordosten steuern. Dort liegt die Heimat. Vielleicht gelingt ihm eine Landung auf Paliki, westlich von Kephalonia, wo er reiche Besitzungen hat. Vielleicht kann er Kephalonia andernorts oder Zakynthos oder gar die „herrliche Same“ (heute Sami) im Norden Kephalonias, nahe dem Hafen Pisaetos auf Ithaka erreichen. Je nachdem, wie gut er navigiert. Auch das Land der Phäaken, Scheria, das heutige Lefkada, ist eine günstige Option. Er muss nur – weitgehend ohne Schlaf – immer geradeaus fahren.

Wichtig ist genaues Navigieren. Was er natürlich als erfahrener Schiffsführer bestens kann. Aber er braucht dazu die Sterne, die ihm den Weg weisen. Hoffentlich sind sie da! Und er hat Glück. Der Höllenritt über`s Meer gelingt. Am achtzehnten Tag seiner waghalsigen Reise mit dem Floß ist er fast am Ziel. Plötzlich sieht er zweifelsfrei von weitem Scheria daliegen. Wie immer, wie ein am Boden liegender runder Schild mit der Wölbung nach oben. Er ist sich hundertprozentig sicher. Aus zahllosen Passagen kennt er diese Landmarke. Von (Süd)Westen kommend sieht er aus der Perspektive seiner Position auf dem Meer die Insel und ihre unverwechselbare Form.

Riesenglück im Unglück

Mit rund 1,5 km/h war er also unterwegs gewesen. Die Strömung und manchmal seichter Wind haben ihn über das Meer an sein Ziel treiben lassen. Er weiß jetzt auch, dass er kaum vom Kurs abgekommen ist. Eine wahre Meisterleistung für diese Distanz. Er kommt von Westen, fährt also etwas zu weit nördlich, um direkt nach Ithaka zu gelangen. Aber was soll`s, jetzt ist es vollbracht, er ist schon ganz nah an seiner Heimat. Wenn da nicht Poseidon wäre, der Gott des Meeres, der ihn verfolgt und Rache an ihm nehmen will. Heißt: noch ist nichts gewonnen. Kurz vor dem Ziel kommt gewaltiger Sturm auf und zertrümmert sein Floß. Gerade noch kann er sich an ein Bruchstück davon klammern und treibt hilflos in der orkangepeitschten See.

Aber er schafft es, seinen Kopf immer über Wasser zu halten, im wahrsten Sinne des Wortes. Am Ende seiner langen Reise, treibt er vor der Küste Scherias (Lefkadas), dem Land der Phäaken. Schon den dritten Tag harrt er im stürmischen Meer aus. Er ist vollkommen entkräftet und hat nur mehr wenig Hoffnung auf Rettung. Plötzlich Land vor Augen schöpft er wieder Zuversicht, aber das Ufer ist felsig und die tobende Brandung treibt ihn wieder auf das offene Meer hinaus. Die vermeintlich rettenden Felsen, an denen er sich festklammern wollte, sind messerscharf. Keine Chance zu landen. Aber Odysseus hat diesmal Glück. Neuerlich treibt er auf Land zu. Wieder spülen ihn die mächtigen Wellen Richtung Ufer. Diesmal an die Mündung eines Flusses, wo er sich schwimmend an Land rettet. Total erschöpft bricht er zusammen.

Prinzessin Nausikaa

Er ist auf Scheria, dem Land der Phäaken, dem heutigen Lefkada. Gelandet nahe dem nördlichen Sund an einer Flussmündung. Unweit der Stadt der Phäaken, dem heutigen Lefkas Stadt. Er versteckt sich im Dickicht nahe dem Fließgewässer und fällt in einen tiefen Schlaf. Später kommt Nausikaa, die Tochter des Phäaken-Königs Alkinoos mit ihren Gefährtinnen zum Fluss, um Wäsche zu waschen. Nach getaner Arbeit ergötzen sie sich am Ballspiel, lärmen dabei und Odysseus erwacht. Er zeigt sich den Mädchen. Nausikaa nimmt sich seiner an, und führt ihn in die Stadt ihres Vaters, der heutigen Stadt Lefkas.

Die Phäaken nehmen ihn gastfreundlich auf. Unter ihrer zuvorkommenden Fürsorge erholt sich der Schiffbrüchige zusehends und gibt sich ihnen als der zu erkennen, der er ist. Odysseus. Sein hervorragender Ruf ist längst zu den Phäaken gedrungen und dementsprechend bringt man ihm höchste Achtung und Wertschätzung entgegen. Große Feste werden gefeiert. Im Wettkampf beweist er, dass er es immer noch mit jedem an Kraft und Geschick aufnehmen kann. Keiner der Phäaken kann ihm das Wasser reichen. Das imponiert mächtig und hebt seinen Status nocheinmal gewaltig. Die Geschenke fallen infolge dessen ebenfalls beträchtlich wertvoller und reicher aus, als sie sonst ausgefallen wären.

Odysseus, der exzellente Stratege, hat auf Lefkada als Gastfreund im Palst des Königs Alkinoos Zeit genug, sich auf die Rückkehr nach Ithaka vorzubereiten. Er gewinnt alle Informationen, die er benötigt, um sicher heim zu kehren. Die Situation ist klar. Über hundert ungeduldige Freier drängen Penelope, seine treue Gattin massiv, einen von ihnen jetzt zum Mann zu nehmen. Sie sind skrupellos und niemand weist sie in die Schranken. Auch wenn es Frevel ist, was sie samt ihrem Gesinde treiben, nichts und niemand hält sie mehr nach fast drei Jahren des Wartens und Werbens davon ab, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Königin von Ithaka muss sich aus ihren Kreisen einen Bräutigam wählen. Penelope ist eine äußerst gute Partie und sie hat keine Chance. Binnen Kurzem muss sie sich entscheiden.

Die Freier samt Anhang zehren seit nahezu drei Jahren das Vermögen des Odysseus auf. Sie fressen und saufen und gebärden sich im Palast des verschollenen Königs wie die Tiere. Niemand außer Penelope glaubt mehr wirklich daran, dass Odysseus am Leben ist. Ihr Vermögen ist beträchtlich, ihre Schönheit geradezu legendär. Wenn es nun den Freiern zudem noch gelingt, den rund zwanzigjährigen Sohn des Odysseus und der Penelope, Telemachos, zu beseitigen, dann bringt Penelope nicht nur ihr eigenes Vermögen in die Ehe mit, sondern auch noch alles, was Odysseus gehört. Und das ist mehr, als ‚zwanzig andere Männer ihr Eigen nennen‘, wie Homer es formuliert und detailgetreu auflistet.

Wer immer von Penelope erwählt wird, dem winkt schier unermesslicher Reichtum. Unter den rüden Freiern ist es daher beschlossene Sache, dass weder Odysseus noch sein Sohn Telemachos weiterhin ihre Pläne stören dürfen. Das Problem Odysseus scheint ja gelöst und das Schicksal von Telemachos ist für die Freier besiegelt. Dessen ist sich Odysseus bewusst. Er darf also den Freiern nicht in die Hände fallen. Er muss unbemerkt auf die Insel kommen, davon hängen sein Leben, das Leben seines Sohnes und seiner Getreuen, somit der Erfolg seiner Mission ab.

Nach der Landung muss er zunächst seine wenigen verbliebenen Getreuen um sich scharen, die es auf der Insel noch gibt. Schafft er das, kann er die Freier eventuell verjagen oder töten. Somit ist klar, dass er nur im kaum bewohnten Norden der Insel in einer abgeschiedenen Gegend landen muss. Überall sonst wird er entdeckt. Er kommt mit dem Schiff der Phäaken. Dieses darf bei der Landung auf Ithaka von keinem Menschen gesichtet werden. Alles muss daher schnell gehen und das Schiff muss sofort wieder in Richtung Heimat, also nach Norden, abfahren.

Nur der Norden bietet Schutz

Vom Ort der Landung aus muss Odysseus unbemerkt und unerkannt zu Fuß Hilfe erreichen können. Und er muss schnell einen geeigneten Unterschlupf finden, muss vollkommen sicher vor Übergriffen sein können. Stets muss er sich von der Stadt Ithaka, dem heutigen Vathy und anderen Siedlungen fernhalten und doch in der Lage sein, möglichst alle wichtigen Informationen zu beschaffen. Für diese Strategie kommen nur zwei Personen in Frage. Sein alter Vater Laertes und der Sauhirt Eumäus. Sein Sohn Telemachos kommt nicht in Betracht. Odysseus kennt ihn als Erwachsenen gar nicht und kann ihn nicht einschätzen, falls er überhaupt noch am Leben ist.

Das weitläufige Gehöft seines Vaters liegt sehr nahe der Stadt, im südlichen Teil der Insel. Es liegt sehr zentral, die Küsten dort sind gut bewacht und viel zu weit weg vom Landgut, um unbemerkt dorthin zu kommen. Ein Schiff vom Norden, aus Lefkada (oder Korfu wie viele immer noch annehmen) in den Süden der Insel Ithaka zu steuern, an allen Wachposten vorbei wäre purer Selbstmord. Nicht mal bei Nacht, weil die skrupellosen Freier just zu dieser Zeit Telemachos Schiff auf der Rückkehr aus Pylos und Sparta abfangen und ihn töten wollen. Dazu stellen sie tagsüber auf allen Höhen Wachen auf und sogar nachts kreuzen sie mit einem Schiff vor Ithaka.

Telemachos landet in Aphales

Jeden Tag rechnen die Freier mit der Ankunft des Telemachos. Genau damit rechnet Telemachos und fährt weit östlich von Ithaka entlang dem Festland nach Norden „zu den spitzigen Inseln“ (Lefkada), um seinen Häschern zu entgehen. Von Norden kommend landet er mit seinen Gefährten in der Aphales-Bucht, der nördlichsten im Westen der Insel. Von dort ist der Hof des Eumäus (heute Hügel Mavounias nahe dem Ort Platrithias) nur einige Steinwürfe entfernt. Dort sucht er zuerst Zuflucht bei Eumäus, genau wie sein Vater Odysseus. Das Schiff mit den Gefährten schickt er über die Nordspitze der Insel herum und dann entlang der Ostküste in die Stadt des Odysseus, dem heutigen Vathy, wo seine Mutter im Königspalast sehnsüchtig auf ihn wartet.

Seine Gefährten überstehen die gefährliche Fahrt unbeschadet und landen kurz vor ihren mordlüsternen Jägern im Hafen von Vathy. Sie haben es geschafft, jetzt sind sie in Sicherheit. Und die Schmach der Häscher könnte größer nicht sein. Weiterhin bleibt für Odysseus der Hof des Eumäus als einziger sicherer Ort übrig. Und der ist strategisch perfekt. Das Gehöft des Sauhirten, das dieser aus Steinen mit seiner Hände Arbeit gebaut hat, liegt auf einem „weit umschauenden Hügel“. Rund herum gibt es reichlich Futter und Trinkwasser („schwarzes ‚schattiges‘ Wasser“) für die 1.200 Schweine, die Eumäus hält. Normalerweise gilt diese Zahl. Doch durch das Treiben der Freier, denen er täglich ein Mastschwein liefern muss, ist der Bestand auf 960 Stück zurückgegangen. Trotz ständiger Nachzucht ein Verlust von 240 wertvollen Tieren.

Betrug an Touristen und Einheimischen

Eine Peinigung für den tüchtigen Sauhirten, die ihn fast in die Verzweiflung treibt. Der Hof liegt auf dem Hügel Mavounias, wo heute die Kirche des Ortes Platrithias steht. Unweit davon liegt westlich der Arethusische Born am Koraxfelsen. Heute wird diese Landmarke als die Schule des Homer und gar als Palast des Odysseus bezeichnet. Ein Irrtum, der ganz schnell auffallen müsste, wenn man die Odyssee mit etwas Aufmerksamkeit liest. Makaber mutet dabei an, was heutzutage den Touristen und Einheimischen als „Arethusischer Born“ und als die „Höhle des Eumäus“ (als sein Gehöft) präsentiert wird. Von einer Höhle des Eumäus ist übrigens nirgendwo in der Odyssee die Rede. Das Ganze basierend auf Angaben und Forschungen britischer Wissenschaftler. Komplett aberwitzig und intellektfern.

Beide Landmarken liegen weit im Süden der Insel und sind derart unzugänglich, dass bis zum heutigen Tage kein Schwein einen Fuß darin gesetzt haben kann. Weder in die bezeichnete Höhle, noch in den Arethusischen Born. Die „Quelle“ schüttet heute ein paar Tropfen aus und ist dergestalt, dass maximal ein Mensch zum Wasser Zugang hat. Demnach sind zu Zeiten des Eumäus dort 1.200 Schweine brav Schlange gestanden, um sich zu tränken. Eine äußerst amüsante Vorstellung. Leider ist auch der Pfad, der zur Quelle führt so schmal, dass zwei Menschen nicht ohne weiteres aneinander vorbeikommen. Perfekt für Viehtrieb in Massen.

In Sicherheit bei guten Nachbarn

Wenn man dort Schweine halten möchte, muss man ziemlich gaga sein und bis heute gibt es dort außer ein paar streunenden Ziegen nichts, was auf bedeutende Landwirtschaft hinweist. Besonders lästig sind zudem zahlreiche Giftschlangen, die man allenthalben findet. Das wissen aber nur Menschen, die sich die Mühe gemacht haben, dorthin zu gehen. Doch zurück zu Odysseus und seiner Mission. Strategisch liegt also der Landhof des Eumäus für Odysseus optimal. Aus diesem Blickwinkel gesehen ist er auf Lefkada am besten Platz der Welt gestrandet, den er sich nur wünschen konnte. Wäre er auf Ithaka an Land gespült worden, die Freier wären seiner habhaft geworden und hätten keinen Augenblick gezögert, ihn zu ermorden.

Auf Scheria, dem heutigen Lefkada, ist er in Sicherheit und bei guten Menschen, die noch dazu hervorragende Seeleute und Schiffbauer sind. Die mit großem Abstand Besten ihrer Zeit. Zudem sind sie die besten Tänzer ever. Fremden gegenüber sind sie äußerst abweisend, sie wollen unter sich bleiben und dulden keine Migranten. Deshalb stehen sie im Ruf, jeden Fremden zu geleiten und ihn dorthin zu bringen, wo er herkommt oder wohin immer er möchte. Das gilt grundsätzlich auch für Odysseus. Wohl für ihn ganz besonders, ist er doch einer der berühmtesten Helden aus dem ehemaligen Feldzug gegen Troja und zudem König der südlichen Nachbarinsel Ithaka. Deshalb zeigen sich die Phäaken von ihrer großzügigsten Seite.

Ablegen in Richtung Heimat

Die Stadt der Phäaken, des Königs Alkinoos und seiner Königin Arete, ist eine junge Stadt. Erst vor rund sechzig Jahren von Alkinoos‘ Vater Nausithoos gegründet, nachdem die Phäaken ihre ehemalige Heimat, nahe den Kyklopen, verlassen hatten, um deren stetigen Angriffen zu entgehen. Jetzt soll keiner mehr ihre Kreise stören. Die neue Stadt ist groß, reich und es herrscht ein Klima wie im Paradies. Odysseus wird so lange bleiben, bis er sich kräftig genug fühlt, um nach Ithaka in See zu stechen. Er weiß, was ihn dort erwartet und sehnt doch den Tag herbei, an dem er in Richtung Heimat aufbrechen kann.

Am 15. April 1178 v. Chr. (Quelle: NASA) ist es endlich soweit. Das Schiff ist gerüstet, die Mannschaft steht bereit. Die Winde stehen günstig. Die See ist ruhig. Das Schiff wird aber erst am Abend auslaufen, die Rückkehr nach Ithaka untertags wäre zu gefährlich. Mit den großzügigen Gastgebern wird noch ausgiebig Abschied gefeiert. Immer wieder blickt der Held während des Festes nach dem Stand der Sonne und wartet sehnsüchtig darauf, dass sie untergeht. Dann ist es so weit. Der Countdown beginnt, sein Schiff legt um ca. 20.30 Uhr des 15. April 1178 v. Chr. im Hafen ab und sticht bei gutem Wind in See.

Der Ausgangshafen liegt in etwa dort, wo heute die Stadt Lefkada im Norden der gleichnamigen Insel liegt. Die Entfernung bis zum Zielpunkt beträgt knapp siebzig Kilometer. Zehn bis elf Stunden wird es bei gemütlicher Fahrt dauern, bis das Ziel, die Phorkys Bucht im hohen Norden von Ithaka, erreicht ist. Dabei handelt es sich um die heutige Marmagkas-Bucht am Fuße des Berges Marmagkas. Dieser ist der ein nördlicher Ausläufer des Niritosgebirges mit seinen zwei Gipfeln, 809 und 806 Meter hoch (als Berg Neriton von Athene bezeichnet, Odyssee XIII. 349).

Für die Weltmeister der Seefahrt in der damaligen Zeit, die Phäaken, ein Kinderspiel. Sie gehen es gemütlich an, kennen sich aus, haben Zeit. Die nächtliche Überfahrt verspricht ruhig zu verlaufen. Der Himmel ist sternenklar, es herrscht abnehmender Mond, es ist hell über der See. Bald ist Neumond.

Odysseus hat alles, was zu reden ist, gesagt und mit der Mannschaft geklärt. Er steigt in das Schiff und legt sich nieder zum Schlafen. Er fühlt sich vollkommen sicher und nichts kann ihn mehr wecken. Er ist wie tot, und noch immer dabei, sich von den Schindereien des Schiffbruchs zu erholen. Er muss durch ganz tiefen Schlaf schnell wieder zu Kräften kommen und hat eine Reihe von Überlegungen angestellt und sich taugliche Pläne zurechtgelegt, wie er sich bei und vor allem nach der geglückten Landung verhalten wird. So findet er nun auf See nach den Abschiedsfeierlichkeiten mit üppigem Essen und ausgiebigem Trinken tiefen Schlaf in einer Kabine im Heck des hohlen Schiffes seiner phäakischen Freunde.

Geheime Mission geglückt

Die Phäaken haben nicht nur die besten Schiffe, sondern auch für jeden Zweck die richtige Größe. Weil ihnen klar ist, dass sie angegriffen werden können, rüsten sie ein Kampfschiff mit fünfzig Mann Besatzung. Es fährt mit rund vier Knoten oder 7,5 km/h und wird teils gerudert, teils fährt es unter Segel. So tief ist der Schlaf des Odysseus, dass er nicht einmal erwacht, als das Schiff nach knapp zehn Stunden im Hafen der Phorkys-Bucht landet. Der Morgenstern steht bereits am Himmel und der Tag graut. Es ist gegen sieben Uhr morgens. Dichter Nebel liegt über der Landschaft. Besser kann es für die absolut geheime Mission nicht laufen. Die Mannschaft bringt den schlafenden Helden behutsam von Deck und legt ihn, so wie er gebettet ist, in den Sand am Gestade der Bucht, die sie natürlich kannten.

Wie heute erstreckt sich auch damals in der Marmagkas-Bucht, kurz hinter der Wasserlinie mit Kiesgrund, feiner Sandboden, auf dem Bäume wachsen, wie zum Beispiel Ölbäume oder Platanen. Dort kommen nun die reichen Geschenke an Land. Sie werden sorgfältig auf der wegabgewandten Seite eines großen Ölbaumes deponiert, damit sie kein Vorbeigehender sehen und rauben kann. Auftrag erfüllt. Ohne weitere Umschweife verlassen die Phäaken anschließend Hafen und Bucht. Alles ist bestens gelaufen. Odysseus ist unbemerkt auf Ithaka angekommen.

Zwo vorragende Felsen an der Mündung

Klar, dass die Phäaken eine abgelegene Bucht im äußersten Norden der Insel ansteuerten, in der man gefahrlos anlegen oder ebenso leicht bei Gefahr jederzeit wieder ablegen konnte. Der Ort musste fernab von jeder menschlichen Siedlung oder Behausung sein. Das Anlegemanöver durfte keinesfalls schwierig oder gar gefährlich sein. Die Fracht war zu wertvoll. Deshalb wählten die Seeleute mit Odysseus die Phorkys-Bucht aus. Die Marmagkas-Bucht. Sie liegt im Norden Ithakas an deren Ostküste, rund acht Kilometer südlich vom nördlichsten Punkt der Insel entfernt. Sie ist vollkommen abgelegen, relativ weitläufig, nicht sehr tief und von Wasser und Land her kaum einsehbar.

Sie weist ein markantes Geländemerkmal auf. Zwei hohe, mächtige Felsen an der Einfahrt, die jede stürmische See zurückhalten, sodass das Meer in der Bucht stets ruhig ist, wie ein Bergsee. Von den beiden Felsen an der Mündung ist heute nur mehr der südliche oberflächig sichtbar. Dreitausend Jahre Erosion und wohl auch tektonische Bewegungen haben den nördlichen der beiden Felsen um einige Meter abgeschliffen, sodass er nicht mehr aus dem Wasser ragt. Zum anderen stieg der Meeresspiegel seit damals bis heute um rund drei Meter an. Kein Wunder, dass er heute unter Wasser liegt. Auf dem sichtbaren der beiden felsigen Erhebungen steht heute eine Kapelle, die dem heiligen Nikolaus geweiht ist.

Der Weg zurück auf Heimatboden

Die Detailangaben Homers sind also nicht nur höchst präzise, sondern stimmen mit den heutigen örtlichen Gegebenheiten exakt überein. So ist diese Bucht aktuell wegen ihrer idyllischen Lage am Fuß des Berges Marmagkas, der nördlichsten Erhebung des Niritos (Neriton) Gebirges, bei Seglern und Landurlaubern sehr beliebt (Eine holprige Schotterstraße von Frikes zur Marmagkas-Bucht existiert erst seit einigen Jahren). Kaum finden sich Wellen in der Bucht, selbst wenn diese im offenen Meer schon ordentliche Größe haben.

Südlich gibt es vereinzelt Wochenendhäuser in einiger Entfernung zur Bucht auf einem Geländerücken. Die Schönheit des Ortes ist unverändert. Weitumschattende Bäume am malerischen Gestade dieses wunderbaren Ortes scheinen die Zeit seit damals stillstehen zu lassen.

Die Marmagkas-Bucht erstreckt sich über wenige hundert Meter von Süd nach Nord. Sie ist rund hundert Meter tief. Fußläufig war sie zur Zeit des Odysseus wohl nur über einen steinigen Steig hinauf zum Sattel des Makmagkas-Berges erschlossen und allenfalls mit Karren erreichbar. Heute führt ein mit zweispurigen Kraftfahrzeugen gerade noch befahrbarer Weg in einer weit gezogenen Nordwest-Schleife von der Bucht Richtung Nordwesten auf den Marmagkas-Sattel auf 240 Meter Seehöhe. Ab da ist der Weg besser ausgebaut, teilweise befestigt und führt direkt hinunter nach Platrithias.

Platrithias liegt auf knapp 100 Meter Seehöhe. Von hier aus verlaufen ortsübliche Straßen zu allen erschlossenen Inseldestinationen. Unweit der Behausungen liegt der Hügel von Mavounias, auf dem eine Kirche steht. Dort stand einst der Hof des Eumäus. Er hätte keinen besseren Platz für sein Gehöft für die Schweinezucht wählen können. Tausendzweihundert ! Schweine brauchen viel Platz, viel Wasser und viel Auslauf. Eichen sonder Zahl und ausgedehnter Weidegrund umgeben den riesigen Hof auf weitumschauendem Hügel nahe dem ergiebigsten Quellgebiet auf der ganzen Insel. Heute wie damals, samt dem Arethusischen Born (heute fälschlich als Homerschule oder Palast des Odysseus bezeichnet) und dem dahinter liegenden steil aufragenden Koraxfelsen.

Odysseus ist sicher in der Marmagkas-Bucht (Phorkys-Bucht) gelandet. Von dort macht er sich als Bettler verkleidet auf den Weg. Bald wird er am Hof des Eumäus angelangt und in Sicherheit sein. Seine Schätze verstaut er in einer Höhle nahe der Bucht. Diese ist heute nur mehr rudimentär vorhanden. Wohl tektonischen und witterungsbedingten Einflüssen zufolge. Auch eine Zerstörung von Menschenhand (Sprengung) ist denkbar. Oder beides.

Die Tage und Stunden der Heimkehr

07.00 Uhr, 16. April 1178 v. Christus

Odysseus hat wohl überlegt, wo er landet. Die Phorkys-Bucht kennt er sehr gut, schon als Knabe hatte ihn sein Vater dorthin mitgenommen, um in der heiligen Höhle der Najaden den Nymphen Opfer darzubringen. Nun liegt er am Ufer unter dem Ölbaum. Es ist neblig und kühl. Als er erwacht, sieht er sich im ersten Moment irgendwo an einem unbekannten Ort von den Phäaken ausgesetzt und seiner Geschenke beraubt. Schlaftrunkenheit spürt selbst der Held Odysseus. Nach einer Mega-Leidenstour über zehn Jahre ist das nur allzu verständlich. Er ist immer noch stark traumatisiert. Er kann kaum einen klaren Gedanken fassen und ist vollkommen verpeilt.

Im Nebel scheint ihm die Landschaft ringsum fremd. Ein Schock. Aber er fängt sich bald, sondiert die Lage und prüft seine Schätze. Alles da. Die Phäaken haben alles korrekt gemacht. Es wird zunehmend heller, die Sonne geht auf und die Nebel lichten sich. Odysseus erkennt nun die Einzelheiten der Umgebung. Der Platz ist ihm vertraut. Er kennt die Bucht und die Grotte und er weiß, dass er hier im Unterstand der Hirten alles findet, was er für seinen weiteren Plan braucht. Er versteckt die Geschenke in der Höhle nahe am Ufer und labt sich am frischen Wasser der dort sprudelnden Quellen. Dann verkleidet er sich mit altem abgelegtem Gewand der Hirten als Bettler. Mit seinen fast fünfzig Jahren geht er locker als solcher durch, niemand wird und darf argwöhnisch werden.

07.15 Uhr

Bevor Odysseus den Anstieg auf den Sattel am Marmagkas-Berg in Angriff nimmt, legt er noch einen Stein vor die Türe der Grotte. Wozu? Damit jeder Fremde sieht, hier ist niemand anwesend und ein Öffnen der Türe ist unerwünscht. Niemand soll die Grotte durch diesen Eingang betreten. Seine Schätze soll ihm keiner rauben. Sein erstes Ziel ist das Gehöft des Sauhirten Eumäus. Der Anstieg auf den Bergsattel kommt ihm sehr gelegen, sein zügiger Schritt wärmt den Körper rasch auf. Nach etwa einer Stunde hat er den höchsten Punkt des Weges erreicht. Er überquert den weiten Sattel, dann liegt das lang vermisste Land vor ihm. Er freut sich über die satte Pracht der Fruchtbarkeit seiner Insel. Von da aus sieht er auch schon den stattlichen Hof eines Bauern und beeilt sich, dorthin zu kommen. Dass dies der Hof des Eumäus ist, hofft er, er weiß es aber nicht. Zu lange war er weg.

07.45 Uhr

Er rastet kurz und überquert dann den Sattel. Der Weg vom Berg hinunter ist gut, bald hat er die Felder und Wiesen unten auf der Ebene erreicht. Die Gegend scheint noch menschenleer. Es ist wichtig, dass er zu Eumäus geht. Selbst wenn er niemand antrifft oder nicht aufgenommen wird, gibt es das lebenswichtige Wasser in der Nähe des Hofes. Homer spricht vom schattigen Wasser des Arethusischen Borns. Heute die schwarze Quelle oder Mavros Krini genannt. Verortet bei der (willkürlich und ohne jegliche wissenschaftliche Grundlage bezeichneten) Homerschule. Am Fuße des unmittelbar dahinter liegenden hohen Felsabhanges (Korax-Felsen, Rabenfelsen).

Nicht im Süden der Insel, wie man heute nach Angaben englischer Wissenschaftler annimmt und allenthalben schreibt und den Touristen und Einheimischen verkauft, sondern hier im Norden, einen guten Kilometer vom Hof des Eumäus entfernt, dem Standort der heutigen Kirche Taxiarchos in Platrithias.


Weiterer Exkurs zur Verortung
Arethusischer Born und Koraxfelsen

Die heute als „Arethusische Quelle“ und als „Koraxfelsen“ bezeichneten Orte im äußersten Süden von Ithaka sind derart abgelegen und untauglich für die Haltung, Fütterung und vor allem Tränke von 1.200 Schweinen, dass es schon sehr eigenartig anmutet, wie man auf diese Verortung kommen konnte. Allein der Weg zur heute sogenannten Arethusische Quelle ist so unwegsam, dass sicher noch kein einziges Schwein dorthin getrieben wurde und schon gar nicht 1.200 oder auch nur 960.

Zudem wir dort in der Nähe die „Höhle des Eumäus“ ausgewiesen. Dort soll Eumäus seine 1.200 oder 960 Schweine gehalten haben. Abgesehen davon, dass bei Homer nie die Rede von einer Höhle des Eumäus ist, ist der Zugang zu dieser Höhle derart unwegsam, steil und gefährlich, dass selbst geübte gut ausgerüstete Bergwanderer den Weg meiden. Wer dennoch dorthin klettern will, sollte sich der Gefahr der zahlreichen Giftschlangen bewusst sein, die dort anzutreffen sind.

Der Ort gibt Odysseus die Sicherheit zu überleben. Er nähert sich nun vorsichtig dem Gehöft, alles ist ruhig. Wenn Eumäus der Besitzer ist, hat er hervorragende Arbeit geleistet. Mit seinen tüchtigen Leuten hat er einen stattlichen Hof errichtet. Aber wie wird er reagieren und ist er immer noch loyal? Odysseus wird es bald wissen. Er betritt das Areal des Gehöftes und sofort schlagen die scharfen Hunde des Sauhirten an. Sie springen auf ihn zu. Odysseus weiß um die tödliche Gefahr, aber er weiß auch mit Hunden umzugehen. Aber wäre Eumäus nicht noch rechtzeitig aus der Tür getreten, um die Hunde zurückzupfeifen, wer weiß, wie das geendet hätte. Bestimmt ganz übel für Odysseus.


08.15 Uhr

Das wissen beide und sie reden ausführlich drüber, nachdem Eumäus seinen Herrn als Bettler verkleidet nicht erkannt und trotzdem gastfreundlich aufgenommen hat. Er bereitet gerade das Frühstück und freut sich über den überraschenden Besuch eines Fremden in seinem einsamen, abgelegenen Winkel im Nordteil der Insel, nahe der Aphales-Bucht, wo nur selten Schiffe anlegen.

Die beiden finden Gefallen an den jeweiligen Erzählungen des anderen und sie tauschen sich ausgiebig aus. Odysseus erfindet eine plausible Geschichte über seine Herkunft und es gelingt ihm schon bald, eine Menge Informationen über die aktuell herrschende Situation auf Ithaka zu bekommen. Aber vor allem erweist sich Eumäus als der treueste Untertan, den man sich als König nur wünschen kann.

Er leidet wie ein Tier darunter, dass Odysseus verschollen ist und fühlt wie ein Vater für Odysseus‘ geliebten Sohn Telemachos. Er würde für seinen Herrn alles tun, ja sogar sein Leben opfern. Genau darauf hat Odysseus gehofft, das ist seine Chance und sein Kalkül ist somit perfekt aufgegangen. Hier kann er sich vollkommen sicher fühlen.

Jetzt erfährt er, dass sein Sohn Telemachos mit einem Schiff nach Pylos und Sparta gefahren ist, um dort Nachforschungen über seines Vaters so langen Verbleib zu betreiben. Diese Information ist von größter Wichtigkeit. Einer seiner wichtigsten Verbündeten ist somit nicht im Lande. Aber neben Eumäus hat er nun in Telemachos einen weitern. Bis zu dessen Rückkehr muss er also in jedem Fall warten, um weitere Schritte zu setzen.

Zwei Tage und zwei Nächte vergehen.

07.30 Uhr, 18. April 1178 v. Christus

An diesem Morgen schicken sich Odysseus und Eumäus gerade an, das Frühstück zu bereiten, da hört der „Bettler“ näherkommende Schritte, aber die Hunde schlagen nicht an. Es muss also jemand sein, den sie kennen. Und tatsächlich steht kurz danach sein geliebter Sohn Telemachos in der Tür. Odysseus sieht zum ersten Mal seinen nun erwachsenen Sohn. Zwanzig Jahre ist es her, seit er seine Familie verlassen hat, um in den Krieg gegen Troja zu ziehen. Seine Finte, sich verrückt zu stellen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen, damit er das Heranwachsen seines jüngst geborenen einzigen Sohnes erleben kann, ging ja schief.

Und jetzt steht ihm sein Sohn, damals noch ein Baby, leibhaftig gegenüber. Er ist ein stattlicher junger Mann geworden, das Vaterherz ist tief bewegt, aber er muss den Bettler mimen, so schwer es ihm auch fällt. Eumäus ist außer sich vor Freude und gebärdet sich überglücklich. Telemachos aber ist auf der Hut. Er weiß nur zu gut, dass er niemand mehr trauen kann und erkundigt sich eingehend nach der Herkunft des Fremden. Nicht, dass er vor dem alten Mann Angst hätte, aber in seiner Situation ist allerhöchste Vorsicht ist geboten.

Sein Schiff hatte in der Aphales-Bucht angelegt. Die Zeit drängt und die Wächter der Freier, die Telemachos auflauern sind wachsam. Deshalb hat Telemachos seine Gefährten nach kurzer Rast in der Bucht bereits in Richtung Stadt beordert, dem heutigen Vathy, der Hauptstadt Ithakas. Die treuen Gefährten sollten seiner in tiefster Sorge um ihn stehenden Mutter Penelope Bescheid geben, dass er samt Gefährten heil zurückgekehrt und am Hof des Eumäus ist. Er hat die Schergen der Freier, die ihm zu Wasser aufgelauert hatten, elegant ausgetrickst.

Er hielt sich ab Elis zuerst der Küste des griechischen Festlandes entlang nach Norden. Steuerte dann sein Schiff zu den spitzigen Inseln, den Südspitzen von Lefkada. Weil diese Insel im Süden mehrere Spitzen aufweist, eine davon wie ein Zeigefinger mit Kralle, nennt Homer sie „die spitzigen Inseln“. Ein Merkmal, das allen übrigen Ionischen Inseln fehlt. Von dort hielt er sich nun – von Nordosten kommend – Richtung Aphales-Bucht auf Ithaka.

Das war der einzig sichere Weg, um den Posten der Schergen der Freier verborgen zu bleiben. Damit würden sie nicht rechnen. Das war sein Kalkül, und sein Plan ging auf. Die Schergen der Freier versteckten sich mit ihrem Schiff bei der Insel Asteris im Sund zwischen Kephalonia und Ithaka, um Telemachos aufzulauern. Hätten sie ihm nördlich von Ithaka aufgelauert, wäre ihm zwar noch die Flucht aufs offene Meer hinaus möglich gewesen, allerdings mit ungewissem Ausgang. Allemal besser aber, als sofort umgebracht zu werden.


Die betreffende Passage im Text der Odyssee, der besagt, dass sich die Schergen mit ihrem Schiff beim Inselchen Asteris verstecken, wird allgemein so interpretiert, dass Asteris einen Hafen für Schiffe haben müsse. Die Insel ist so klein, dass sie gar keinen Hafen haben kann. Schon gar nicht für größere Schiffe.

Asteris wird es genannt, wo ein sicherer Hafen die Schiffe

Mit zween Armen empfängt. Hier laurten auf ihn die Achaier

Odyssee, IV. 846, 847

Homer beschreibt einen sicheren (geschützten) Hafen für (viele) Schiffe aller Art und Größe, der die Form von zwei vor der Brust (Bucht) ausgestreckten Armen hat, die durch die so dargestellte Länge viele Schiffe empfangen (aufnehmen) kann.  

Die sinngemäß richtige Übersetzung lautet:

Asteris liegt dort,  wo ein sicherer Hafen die Schiffe mit zween Armen empfängt.

Wo = dort, wo  –  und das ist der Hafen von Polis, die Bucht bei der heutigen Ortschaft Stavros im Norden von Ithaka, exakt auf Höhe des Inselchens Asteris.

Die leider falsch interpretierte Übersetzung führte zu der kuriosen Frage, wo Asteris denn in Wirklichkeit sei, denn das heutige Asteris im Sund, wie Homer es schon benennt, hat keinen Hafen und schon gar nicht einen u-förmigen. Des Rätsels Lösung ist, wie oben dargelegt, ebenso einfach wie eindeutig. Homer sagt nicht, Asteris HAT einen u-förmigen Hafen, sondern: Asteris liegt dort, WO es (auf Ithaka) einen u-förmigen Hafen gibt!


Sie waren sich sicher, Telemachos würde durch den Sund bis zum heutigen Hafen Pisaetos in der Mitte der Insel fahren wollen, um zu landen. Dass er weder im Süden, im Südwesten, noch im Osten der Insel anlanden würde, das war den Freiern ebenso klar, wie für Telemachos, der ihnen unbedingt entgehen musste. Natürlich erwartete er, dass auf allen Anhöhen über die Insel verteilt Wachen aufgestellt waren, die jedes ankommende Schiff sofort den Schergen gemeldet hätten.

Also musste sich Telemachos Ithaka so nähern, dass sein Schiff bei der Landung entweder nicht gesehen werden konnte oder so anlandete, dass es im worst case vor den Schergen und deren Schiff fliehen konnte. Letztlich musste der Heimathafen Vathy erreicht werden, um in Sicherheit zu sein. Dort, vor den Augen der Bürger der größten Stadt auf der Insel, würden die Schergen sich sicher keinen Übergriff auf die Heimkehrenden erlauben. Daher landet er unter Segel erst mit seinen Mannen in der abgelegenen Aphales-Bucht im hohen Nordwesten der Insel Ithaka.

Aphales ist fußläufig gut erschlossen und gerade mal einen guten Kilometer vom Hof des Eumäus am Hügel Mavounias im heutigen Platrithias entfernt. Wer sich Aphales von offener See her nähert, tut dies unbeobachtet. Dort oben im Norden der Insel Ithaka, gibt es neben Platrithias nur Exogi, hoch oben am Berghang, das historisch viel späteren Ursprungs ist. Aber sicher waren dort auf den Bergen einige Wachen aufgestellt, die den Schergen letztlich das ankommende Schiff des Telemachos gemeldet haben. Nur der Weg der Meldung vom Wachposten bis zur Insel Asteris war wohl zu lang, um das Schiff des Telemachos noch vor Vathy abzufangen.

Die Landung in der Bucht von Aphales gelingt ohne Probleme, keine Menschenseele weit und breit. Segel und Mastbaum werden noch auf See eingeholt, das Schiff ans Ufer gerudert und festgemacht. Die Mannschaft hat sich nach der anstrengenden nächtlichen Fahrt beim Mahle am Ufer gestärkt. Dann legt das Schiff, nun gerudert, mit Kurs auf die Stadt des Odysseus (Vathy) ab. Seinen Mannen trägt Telemachos auf, um die Nordspitze Ithakas herum zu rudern, und anschließend der Ostküste der Insel entlang schnellstmöglich nach Süden zur Stadt Vathy zu segeln. Das befolgen sie ohne Verzug.

Vor einer halben Stunde erst hatte Telemachos‘ Schiff in der Aphales Bucht angelegt. Jetzt ist es an der Zeit, die Situation auszuloten. Eines aber ist klar: Falls die Mannen von Telemachos den Häschern der Freier in die Hände fallen, wird es ihnen übel ergehen. Sehr übel, und Penelope wird von der glücklichen Rückkehr ihres Sohnes über die Gefährten auf dem Schiff nichts erfahren. Also muss einer von den Mannen am Hof des Eumäus sicherheitshalber in die Stadt gehen, um zu überprüfen, ob das Schiff dort samt Mannschaft unversehrt angekommen ist. Er muss auch Penelope Kunde von der sicheren Rückkehr des Telemachos bringen.

Das Wissen von der Landung des Schiffes ist von großer Bedeutung und Penelope muss in jedem Fall erfahren, dass ihr Telemachos heil auf die Insel zurückgekehrt ist. Auf Grund dieser Information kann sie unter Umständen etwas gegen die Mordpläne der Freier mit Hilfe Dritter unternehmen. Aber: Die Gefährten des Telemachos haben Glück. Die Freier waren so sicher, das heimkehrende Schiff bei Asteris abfangen zu können, dass sie nur dieses Schiff auf See hatten. Sie haben Telemachos kolossal unterschätzt.

Zurück nach Vathy. Der Bote für die Nachricht an Penelope kann nur Eumäus sein. Er soll Penelope zum einen die Kunde von Telemachos‘ Heimkehr bringen und zum anderen genau auskundschaften, was in der Stadt läuft. Vor allem eben, ob das Schiff mit den Gefährten dort heil angekommen ist. Das spielt exakt den Plänen des Odysseus zu, genau diese Informationen braucht auch er. Vater und Sohn sind nur am Hof des Sauhirten sicher. Nur Eumäus kommt daher als Bote in Frage.

Eumäus ist nicht nur gegenüber Odysseus und Telemachos loyal, seine höchste Wertschätzung gilt vor allem noch Laertes, dem Vater des verschollen geglaubten Helden, dem er ein Leben in Wohlstand und Würde verdankt. Ihm will er nun Kunde davon bringen, dass Telemachos wieder wohlbehalten heimgekehrt ist. Er weiß, wie furchtbar Laertes unter all dem Ungemach leidet. Telemachos aber verbietet dem Sauhirten strikt den Umweg zu Laertes.

Läge das Anwesen des Laertes auf dem Weg des Eumäus in Richtung Stadt, so wäre die Überbringung der Botschaft an Laertes kein Thema und würde keine zusätzliche Zeit erfordern. So aber liegt dessen Alterssitz eine halbe Stunde Weges südlich der Stadt, umgeben von großen Ländereien. Das ist zu weit für Eumäus, der möglichst schnell wieder zurück sein soll und muss. Eurykleia, die treue Schaffnerin von Penelope kann diese Aufgabe viel besser übernehmen, es muss nur unauffällig geschehen.

09.30 Uhr

Eumäus macht sich auf den Weg in die Stadt. Der Weg ist „höckricht“ und rau und gefährlich. Er darf sich in der Stadt nicht allzu lang aufhalten, will er gegen Abend wieder zurück auf seinem Hof sein. In eine Richtung sind es in etwa fünfundzwanzig Kilometer über Stock und Stein. Er braucht zu Fuß ungefähr fünf Stunden dafür. Natürlich kennt er den Weg bestens, er ist ihn schon oft gegangen und weiß genau, was er vor sich hat. Es ist circa 14.30 Uhr, als er in der Stadt ankommt.

Das Schiff der treuen Gefährten von Telemachos hat gerade erst angelegt. Die Schergen der Freier haben es also nicht erwischt. Die Wächter haben es zwar sicher entdeckt und Meldung gemacht, aber der Vorsprung der Heimkehrer war zu groß. Bis die Schergen ihr Schiff von Asteris nach Norden gerudert hatten, um dann nach Süden zu lenken, war das Schiff des Telemachos längst auf Kurs Richtung Vathy. Erst aus der Bucht gerudert, und dann bei gutem Wind unter Segel Richtung Süden. Die Verfolger hatten keine Chance.

Auf dem Weg vor dem Königspalast trifft Eumäus auf den Herold der Crew. Sie beide eilen miteinander zu Penelope und überbringen ihr die gute Botschaft von der glücklichen Heimkehr des Telemachos. Jeder will der Erste sein. Eumäus sucht wie befohlen das Gespräch mit Penelope und richtet ihr alles aus, was Telemachos und Odysseus ihm aufgetragen haben. Nur allzu gern wäre er es auch, der Odysseus` Vater Laertes die gute Nachricht bringt, aber dies übernimmt wie angeordnet die treue Schaffnerin der Penelope, die Amme des Odysseus, Eurykleia.

Wie klug doch der junge Telemachos schon ist. Liefe Eumäus jetzt auch noch zu seinem alten Herren, würde er gut eine Stunde verlieren und seinen Hof eher nicht mehr vor Einbruch der Dunkelheit wieder erreichen. Der Abstecher zu Laertes würde zudem nicht unbemerkt bleiben und einiges Aufsehen erregen. Das hätte für Eumäus lebensgefährlich werden können. Die Devise lautet also weiterhin unverrückbar: Kein Risiko eingehen und nichts Auffälliges tun.

15.00 Uhr

Eumäus strebt zügig heimwärts. Der Rückweg wird wieder beschwerlich und er wird gut fünf Stunden dafür brauchen, aber er wird noch vor Sonnenuntergang um 20.15 Uhr wieder da sein. Nach gut einer halben Stunde Wegzeit sieht er vom Fuß des Hermäischen Hügel im Norden der Stadt aus das Schergenschiff der Freier in den Hafen einfahren. Ganz sicher ist er sich allerdings nicht. Trotzdem: Ihre Bemühungen waren umsonst, Telemachos und sein Schiff sind ihnen entwischt. Eine herbe Niederlage für die mordlüsternen Übeltäter. Wie sehr gönnt er ihnen das!

In unverschämter und sündhafter Niedertracht missbrauchen sie das Recht der Gastfreundschaft und zehren die riesigen Güter des Odysseus schamlos auf. Und das nun schon seit ungefähr drei Jahren. Mehr als tausend gemästete Eber hat Eumäus in dieser langen Zeit bereits den Freiern zum Schmause abgeliefert. Dreihundertsechzig sind gerade noch übrig, aber bald werden auch die von dem gierigen Gesindel aufgefressen sein.

20.00 Uhr

Eumäus hat gerade erst sein Gehöft erreicht und berichtet seinen beiden Gefährten, Odysseus und Telemachos, vom Erlebten. Er beteuert, dass er nach Überbringung der Botschaft an seine Herrin Penelope ohne Umschweife wieder den Heimweg angetreten hat, ohne sich noch auf’s Land zu Laertes zu begeben. Er ist müde, hungrig und durstig. Bei ausgiebig Speis und Trank werden alle Dinge besprochen, auch die Pläne für den nächsten Tag. Danach begeben sich alle zur Ruhe. Was Eumäus nicht weiß ist, dass sich Odysseus seinem geliebten Sohn während des Tages zu erkennen gegeben hat.

Das Glück der beiden darüber ist unbeschreiblich und beinahe vergessen sie so die Welt und ihr Schicksal ein wenig. Aber sie müssen stillhalten und Eumäus darf noch nichts spitzkriegen. Sie spielen weiter ihre Rollen als Königssohn und als Bettler.

Letztlich finden sie auf den Boden der Realität zurück und kreieren gemeinsam einen gefinkelten Plan, wie sie sich der Freier entledigen können. Aber immer noch darf außer ihnen kein Mensch wissen, dass Odysseus heimgekehrt und in Sicherheit ist, und das muss so bleiben.

Dies fällt Telemachos unendlich schwer, aber er ist klug genug, um zu wissen, dass der mit seinem Vater erdachte Plan ihre einzige Chance ist. Nur so können sie gegen die erdrückende Übermacht der schamlosen Freier ankämpfen und die gerechte Sache zu einem erfolgreichen Ende führen. Er wird am nächsten Tag in aller Frühe allein in die Stadt gehen und alles vorbereiten, wie er es mit seinem Vater ausführlich besprochen hat. Sie werden viel Glück brauchen und müssen nach wie vor mit aller Vorsicht vorgehen. Telemachos strotzt vor Mut und Zuversicht, jetzt wo er den geliebten Vater endlich an seiner Seite hat.

07.00 Uhr, 19. April 1178 v. Chr.:

Nichts hält Telemachos mehr auf seinem Nachtlager. Er brennt auf diesen Tag und auf alles, was ihn erwartet. Ein paar nette Worte noch mit Odysseus und Eumäus gewechselt, einige nötige Vorbereitungen noch und er bricht ohne Frühstück in Richtung Stadt auf. Gut gerüstet und voll bewaffnet macht er sich auf den Weg dorthin. Wenn er Glück hat, wird er um diese Tageszeit keinem begegnen und heil seinen Palast erreichen. Denn auch so ist der Weg für einen einzelnen Mann noch gefährlich genug.

Er führt parallel zum Sund durch Fels und Stein etwas oberhalb des Meeres, aber auch durch Wälder und Fluren, in denen wilde Tiere leben, die einem Einzelnen durchaus gefährlich werden können. Nichtsdestotrotz, Telemachos nimmt diesen Weg voll Freude in Angriff und die Insel Ithaka zeigt sich ihm jetzt im Frühling von ihrer schönsten Seite. Sie ist überaus fruchtbar, durchzogen von Flüssen und Bächen, dicht bewaldet und mit üppigem Grün ausgestattet. Mensch und Tier leben hier gut.

Die Herden sind noch in den geschützten Niederungen wo auch ihre Stallungen liegen. Erst später im Jahreskreis werden sie auf die Höhen der Berge getrieben, um dort saftiges Futter zu finden. Aber Telemachos hat kaum ein Auge für die Schönheit der Landschaft. Seine Gedanken kreisen ständig um den Plan, wie er und sein Vater die Freier vernichten können. Jedes Detail des Plans wiederholt er immer und immer wieder. Da darf einfach nichts schiefgehen, zu viel steht auf dem Spiel. Nicht mehr und nicht weniger, als sein und seines Vaters Leben und die Zukunft von Penelope.

09.00 Uhr

Odysseus und Eumäus werden nur durch die strenge morgendliche Kühle des Tages, die notwendigen Verrichtungen und durch den Hunger davon abgehalten, schon früher in die ferne Stadt aufzubrechen. Jetzt machen sie aber Ernst und gehen los. Odysseus ist nach wie vor darauf bedacht, dass Eumäus weiter keinen Verdacht schöpft und ihn keinesfalls wiedererkennt. Er mimt in gekonnter Manier den alten gebrechlichen Bettler, der spärlich bekleidet die Kälte fürchtet und sich drum sorgt, ob Eumäus wohl einen guten Stock für ihn vorbereitet hat, damit er den langen, höckrichten Weg auch bewältigen kann.

Der treue Eumäus hat natürlich dafür Sorge getragen und so machen auch sie sich auf in die Stadt des Odysseus. Es wird kein Geschwindigkeitsrekord werden, denn mit dem alten und gebrechlichen Bettler im Schlepptau ist kein Preis zu gewinnen. Das ist auch überhaupt nicht nötig, Odysseus zwingt nichts zu größerer Eile. Es genügt, wenn er im Laufe des Tages in die Stadt kommt, um sich im Palast unter die Freier zu mischen.

Sein wirklich entscheidender Auftritt ist erst für den kommenden Tag geplant. Bis dahin muss er sich einen Überblick verschaffen, was ihn erwartet. Ganz besonders wichtig ist es, herauszufinden, wem er uneingeschränkt vertrauen kann und wem nicht. Außerdem muss er dafür sorgen, dass Penelope ihre Rolle so spielt, wie er und Telemachos es für sie vorgesehen haben. Vor allem muss es ihnen gelingen, die Freier so zu manipulieren, dass sie dem Wein ausgiebig und intensiv zusprechen. Heute schon, aber ganz besonders dann am Abend des morgigen Tages.

11.30 Uhr

Telemachos ist wohlbehalten in der großen Stadt und im Palast angekommen. Es herrscht geschäftiges Treiben und die Freier gehen unterschiedlichen Tätigkeiten nach. Die einen kümmern sich um ihre Angelegenheiten, die anderen frönen dem dolce vita und wieder andere vergnügen sich bei Sport und Spiel auf dem, wie Homer sagt, „geebneten Platze“, einer Art Stadion. Telemachos überrascht mit seiner Ankunft wieder einmal alle und begegnet im Palast der treuen Schaffnerin Eurykleia als erster. Sie ist gerade dabei, die vielen Sessel im großen Festsaal mit weichen Fellen zu bedecken, damit die Horde der verfressenen Freier das üppige Mittagsmahl bestens vorbereitet einnehmen kann.

Alles soll in untadeliger Weise von statten gehen, auch wenn ihr die verhasste Meute der Schmarotzer noch so widerlich ist. Samt dienerischem Anhang sind Tag für Tag rund hundertfünfzig fremde Männer und das gesamte Gesinde des Palastes zu verköstigen. Und sie wollen und bekommen nur das Beste vom Besten. Eigentlich eine unsägliche Schande, aber ihr bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Telemachos schickt nach seiner Mutter und weist sie an, sich zu baden und schön zu machen, damit sie später vor die Freier hintrete und ihnen erkläre, dass sie sich nun für einen von ihnen entscheiden werde. Das ist der erste Teil des Plans.

12.30 Uhr

Zusammengetrommelt von den Herolden, allen voran Medon, finden sich die Freier im Festsaal zum Schmause ein. Sie waren über die Stadt und die Plätze verteilt mit allerlei Dingen beschäftigt. Der Großteil von ihnen fand sich im nahegelegenen Stadion (am geebneten Platze)zusammen, um dem Wettkampf mit Speer und Diskus zu frönen. Auch anderes Kräftemessen wie Steinschieben oder Ringkampf stehen regelmäßig auf der Tagesordnung der Müßiggänger, damit sie nicht ganz aus der Übung kommen.

Das Stadion, ein künstlich angelegter ebener Platz, ist der beliebteste Treffpunkt. Oben am Fuß der Südwestseite des Stadthügels, nicht sehr weit vom Palast entfernt, in einem kleinen Plateau am nahen ansteigenden Hügelrücken gelegen. Dort findet das sportliche Wettkampfgeschehen seit nunmehr drei Jahren statt. Brot und Spiele ist sozusagen das frei gewählte Motto der zahlreichen Bräutigame in spe.

Im Laufe der Jahre wäre deren üppiges Schwelgen und täglich ausschweifendes Feiern in Fettleibigkeit ausgeartet. Mit regelmäßiger körperlicher Ertüchtigung kämpfen sie dagegen an. Und sie haben wohl auch ordentlich Spaß dabei, sodass die Herolde sie an das Mittagsmahl erst erinnern müssen. Sie lassen sich nicht lange bitten, kommen wie ihnen geheißen und machen es sich gemütlich. Schafe, Ziegen, Schweine und Rinder sind geschlachtet. Es ist wie immer üppig angerichtet.

13.00 Uhr

Odysseus und Eumäus sind bereits nahe der Stadt. An der kühlen Quelle unter den Pappeln, wo die Einwohner „klares Wasser“ (tikti krini) schöpfen, trinken und rasten sie. Der geheiligte Pappelhain liegt unmittelbar vor der Stadt, nordwestlich, schräg unterhalb vom Palast, tausend Schritte davon entfernt. Noch heute steht dort ein Hydrant mit der Inschrift, dass hier eine öffentliche Wasserstelle ist. Ehemals war dort ein Trinkwasserbrunnen.

Wie an jeder Stelle, die Bezug zu einer Episode aus der Odyssee hat, steht auch hier am Ort des Brunnens von Ithakos, Neritos und Polyktor, eine Kirche, als Marke eines heidnischen/homerischen Kultortes, der christianisiert wurde. Wieso sonst sollten gerade auf Ithaka derart zahlreiche Kirchen auffindbar sein, wie an keinem Ort sonst in ganz Griechenland. Allein in der Stadt Vathy stehen zehn Kirchen, bei weniger als zweitausend Einwohnern.

Da kommt der Ziegenhirt Melantheus mit zwei seiner Gefährten daher und erkennt Eumäus. Er mag ihn nicht, ja er hat nur Verachtung für ihn übrig. Er ist ein eitler Tropf und hält sich im Vergleich zum Sauhirten für weitaus edler. Außerdem ist er ein ungehobelter Rüpel, der gern Streit sucht. Das tut er nun auch ausgiebig, weil er aber auch feige ist, traut er sich jedoch nur den alten zerlumpten Bettler tätlich anzugreifen. Ganz untreuer Feigling, hat er sich auf die Seite der Freier geschlagen.

Dort meint er, gilt er etwas und glaubt, dass so für ihn ordentlich was zu holen ist. Das wird ihm noch unendlich leidtun und er wird es bitter büßen. Nun treibt er nach dem Streit seine Ziegen für das Gelage der Fresser und Säufer eilends in die Stadt zum Palast. Er bringt die Tiere zum Vorhof des Palastes in die dortigen Stallungen und mischt sich anschließend ohne Umschweife unter die munteren Festgäste. Sofort lässt er sich gut bewirten und spricht Speis und Trank ausgiebig zu. Als verlässlicher Nachschublieferant und Sympathisant der Freier genießt er freien Zutritt zum Gelage im Festsaal, was er weidlich ausnützt.

13.15 Uhr

Nach der unerfreulichen Auseinandersetzung mit Melantheus an der Stadtquelle legen Odysseus und Eumäus die restliche Wegstrecke gemächlich zurück. Es war sehr knapp. Odysseus hatte alle Kräfte zusammennehmen müssen, um Melantheus nicht in seine Einzelteile zu zerlegen. Odysseus zeigt einmal mehr Nervenstärke und höchste Besonnenheit. Er weiß, er darf auch nicht den kleinsten Fehler begehen. Es fällt ihm nicht leicht, langsam durch die vertraute Stadt auf dem Weg hinauf zum Palast zu gehen. Ein beeindruckendes Erlebnis, nach zwanzig Jahren Abwesenheit.

Als er vor seinem mächtigen Herrscherhaus steht, findet er es wie damals vor, als er nach Troja zu Felde gezogen ist. Er ist sichtlich bewegt und mit Stolz lobt er die Größe, Schönheit und Einzigartigkeit seines Anwesens. Eumäus pflichtet ihm traurig bei, er schöpft immer noch keinen Verdacht. Die wahre Identität seines Begleiters bleibt ihm nach wie vor verborgen. Sie beschließen getrennt in den Saal zu gehen, Odysseus lässt Eumäus den Vortritt.

Während er sich im Vorhof des Palastes umschaut, stößt er auf seinen treuen Hund Argos. Krank und vernachlässigt fristet dieser ein elendes Dasein auf dem Mist. Als er seines Herren gewahr wird, weil Odysseus zu ihm hingeht, erkennt er ihn wieder. Mit freudigem Schwanzwedeln gibt er ihm dies zu verstehen. Danach verendet er. Odysseus ist zutiefst schmerzlich bewegt und erinnert sich an die hervorragenden Eigenschaften dieses edlen Tieres. Nachdem er sich wieder gefasst hat, tritt auch er in den Festsaal und mischt sich unter die Gesellschaft der Freier.

14.00 Uhr

Eumäus wollte schon vor einiger Zeit die Stadt verlassen und zu seinen Hirten und Tieren zurückkehren. Telemachos aber hat ihn gedrängt, noch zu bleiben und erst einiges später den Heimweg anzutreten. Eumäus kommt dem gerne nach und bleibt noch geraume Zeit. Er isst und trinkt mit den anderen Männern und muss dabei die Schmähungen der Freier gegenüber Odysseus mit ansehen. Jetzt bricht er eilig auf. Er hat noch mehr als fünf Stunden Fußmarsch vor sich, bis er seinen Hof erreicht.

In der Stadt bleiben kann er nicht, weil er am nächsten Tag drei gemästete Eber für das Neumondfest als Tribut an die Freier zur Stadt bringen muss. Außerdem würden sich seine Hirten größte Sorgen machen, wenn er nicht heimkäme. Sie wissen, er ist die Verlässlichkeit in Person und niemals würde er seine Pflicht so gröblich verletzen. Schließlich muss er ja auch jene Tiere aussuchen, die für die Schlachtung in Frage kommen. Es hält ihn auch nichts mehr in der Stadt und im Palast.

Das Gesehene und das Geschehene sind für ihn grauenvoll genug, um dem Ort schnellstens den Rücken zu kehren. Noch bei Tag ist er am Hof angelangt und begibt sich bald zur Ruhe, nachdem er alles kontrolliert und für gut befunden hat. Gerade für das hohe Neumondfest, das am nächsten Tag gefeiert wird, hat er die allerbesten Tiere ausgewählt. Er will den anderen Hirten in seiner Leistung und in der Qualität des Mastviehs in keiner Weise nachstehen. Das ist er seinem Herren und vor allem seiner Ehre schuldig.

20. April 1178 v. Chr.:

An diesem Tag feiert die ganze Stadt das Neumondfest und im Palast treffen nach und nach die Hirten mit ihren Tieren ein, die zu Ehren des Festtages geschlachtet werden. Die Mastrinder kommen mit der Fähre aus den ausgedehnten Gütern in Dulichion, einem Gebiet im Norden des Peleponnes, geliefert vom getreuen Hirten Philötios. Dieser ist Odysseus ebenso treu ergeben, wie Eumäus und leidet wie er unter dem üblen Treiben der Freier.

Die Dinge nehmen ihren vorbestimmten Lauf, wie es Odysseus und sein geliebter Sohn Telemachos vorhergesehen haben. Je länger der Tag dauert, umso heftiger wird gefeiert und als Höhepunkt des Festes soll jener Freier Penelope zur Gemahlin erhalten, der den Bogen des Helden Odysseus spannen und den Pfeil durch die Schaftlöcher von zwölf aufgestellten Äxten schießen kann. Die Freier scheitern allesamt an dieser Übung. Sei es, dass sie schlicht die Kräfte nicht hatten, sei es, dass sie wegen der fortgeschrittenen Stunde und des intensiven Feierns dazu nicht mehr in der Lage waren.

Nun versucht es Odysseus selber und siehe da. Zur Verblüffung und zum Entsetzen der schamlosen Meute löst er die Aufgabe mit Bravour. Jetzt fällt es allen wie Schuppen von den Augen. Der König von Ithaka ist im zwanzigsten Jahr heimgekehrt und räumt auf. Gnadenlos. Ohne Wenn und Aber. Mit seinem Sohn Telemachos und den treuen Gefährten tötet er jeden, der mit der Heirat Penelopes sein Erbe antreten wollte. Es ist ein fürchterliches Gemetzel und ein Freier nach dem andern haucht sein Leben aus. Sie haben keine Chance.

Ihre Waffen hat Telemachos mit den Getreuen im Obergeschoß versteckt und selbst einige davon, die Melantheus für die Freier aus dem Versteck herschaffen kann, helfen diesen letztlich nichts. Melantheus wird schließlich von Eumäus und Philötios überwältigt und stirbt eines grausamen Todes. Erst Ohren, Nase und Gemächt abgeschnitten und den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Dann Hände und Füße abgehackt und aufgeknüpft. Getötet werden auch die zwölf ungetreuen Dienerinnen, die den Tod durch den Strang erleiden.

Nach Stunden erst ist das Blutbad vollendet. Danach gibt sich Odysseus seiner geliebten Frau Penelope zu erkennen. Sie aber kann es schier nicht glauben. Und ist klug genug, sich nicht in die Irre führen zu lassen und stellt Odysseus auf die Probe. Mit ein paar gezielten Fragen, deren Antworten nur sie und er kennen können, will sie Sicherheit gewinnen, dass er es wirklich ist. Und er ist es. In unbeschreiblichem Glück sinken sie einander in die Arme.

21. April 1178 v. Chr.

Der Morgen dieses Tages findet die Welt auf Ithaka von unten nach oben gekehrt. Nichts ist mehr, wie es noch vor einem Tag war, die alte Ordnung ist unter dem siegreichen König, der zurückgekehrt ist, wiederhergestellt. Odysseus herrscht wieder über sein Land, aber noch ist nicht alles gewonnen. Die Gefolgschaften der Freier werden früher oder später merken, was passiert ist. Daher bringt Odysseus mit den Seinen die Leichen in den Vorhof und säubert den Festsaal.

Den verbliebenen Getreuen befiehlt er, mit Musik, Gesang und Tanz bei den Menschen in der Nachbarschaft und in den Gassen den Eindruck zu erwecken, als wäre das Fest noch in vollem Gange. Auch das gelingt. Er aber macht sich voll gerüstet und bewaffnet auf. Es ist noch früh am Vormittag. Jetzt ist die Stunde gekommen, dass er seinem trauernden Vater Laertes gegenübertritt und die freudige Botschaft bringt, dass er die Freier in den Hades geschickt und seine Macht wieder erlangt hat.

Mit seinen Gefährten geht er vom Burghügel hinunter in die Ebene im Süden der Stadt, wo die ausgedehnten Besitzungen und das Gehöft seines alten Vaters liegen. Es ist nicht besonders weit von der Stadt entfernt, nicht mehr als eine halbe Stunde Weges. Auch seinem geliebten Vater gibt er sich zunächst nicht zu erkennen, letztlich gelingt es ihm mit Angaben, die nur er und Laertes kennen können, seine Identität als der wahre Odysseus unter Beweis zu stellen. Die Freude des Vaters ist so gewaltig, dass er ohnmächtig hinsinkt.

Das Gefolge der Freier aber hat inzwischen das Ausmaß des Tötens von der Hand des Odysseus in seiner vollen Dimension erfasst und ein Teil der Achaier bewaffnet sich, um Rache an Odysseus und seinen Mannen zu nehmen. Sie folgen Odysseus und seinen Getreuen zu Laertes und sinnen nach deren Tod. Odysseus und seine Gefährten erwarten die Angreifer bereits, sie haben nach ihnen Ausschau gehalten und es kommt zum Kampf Mann gegen Mann.

Der alte Laertes wirft als erster seine Lanze und trifft Eupeithes, der – schwer am Kopf getroffen – tot hinsinkt. Um nichts minder aggressiv werfen sich Odysseus und sein Sohn Telemachos unter die Angreifer und kämpfen mit allen Waffen und Mitteln gegen diese. Keiner der Achaier hätte wohl überlebt, wenn nicht urplötzlich höhere Gewalt ins Spiel gekommen wäre. Eine totale Wendung des Geschehens. Ansatzlos.

Es sind die letzten Zeilen der Odyssee, sie scheinen unscheinbar und beschreiben offenbar das glückliche Ende einer grausamen Auseinandersetzung, in der König Odysseus mit seinen Gefährten bereits hundertacht Männer getötet hat. Nun befiehlt die Göttin Pallas Athene mit donnernder Stimme, das Morden zu beenden und voneinander zu lassen. Buchstäblich „knallt“ es die Kämpfer zu Boden. Die Waffen entreißt es ihren Händen. Was passiert da!? Gestandene Helden fallen um wie Zinnsoldaten!? Sogar die Waffen reißt es ihnen aus den kräftigen Händen!

Pallas Athene plötzlich als Herrscherin über den Donner? Nicht Göttervater Zeus? Das ist höchst bemerkenswert. Dennoch: Tatsächlich folgen die Kämpfer hüben wie drüben diesem ultimativen (göttlichen) Aufruf und lassen voneinander. Blankes Entsetzen ergreift sie. Die Achaier versuchen zu fliehen, zur Stadt zurück, um ihr Leben zu retten. Das würden sie im Falle eines Erdbebens sicher nicht tun, im Gegenteil. Da bleibt man tunlich auf freiem Felde, wo sie sind. Welche Katastrophe aber ist sonst eingetreten?

Als Odysseus, um den gewaltigen Donner zu übertönen laut schreiend sie verfolgen will, schickt Zeus vor loderndem Schild einen flammenden Strahl vom Olymp herunter. Ein mächtiges und unmissverständliches Zeichen. Auch Pallas Athene gebietet dem Helden Einhalt in seiner tödlichen Rache an seinen Feinden und heißt ihn Frieden schließen mit allen Völkern, damit Zeus nicht weiter zürne und damit das alles Verderbende eines Krieges ein Ende finde. Odysseus gehorcht mit Freuden und erneuert die Bünde der Freundschaft mit allen. Mehr wird dazu nicht gesagt.

Ist ein internationaler Friedenschluss so unbedeutend, dass er nur einen Nebensatz, einen kurzen Schlusssatz wert ist? Sehr eigenartig, wenn man vergleicht, dass beinahe jedes Wortgefecht in der Odyssee auch nur wegen Kleinigkeiten bis ins letzte Detail ausformuliert wird. Eine unglaubliche Geschichte scheint nun ein gutes Ende genommen zu haben und alle Menschen leben in Frieden weiter. So scheint es. Doch dieser Schein trügt. Was Homer oder wer immer sonst hier auf wenigen Zeilen schildert, ist an Dramatik und Brutalität schlicht nicht zu überbieten.

Es wird ein Ereignis dargestellt, das noch kein Auge gesehen und kein Ohr jemals gehört hat. Eine Mega-Katastrophe, welche die Menschen ohne jegliche Vorwarnung urplötzlich getroffen hat. Mit solcher Wucht, dass den Kämpfenden die Waffen aus den Händen fallen und was sie buchstäblich umhaut. Es schleudert sie auf freiem Feld zu Boden, und sie brauchen einige Zeit, bis sie sich wieder hochrappeln können. Und dann dieser ohrenbetäubende Knall mit nachfolgendem Donner, den man nicht einmal überschreien kann. Das alles gepaart mit der Erscheinung eines glühenden Schildes, der vor einem Feuerstrahl vom Himmel rast. Es ist etwa 10.30 Uhr des 21. April 1178 v. Chr.

Dann ist Stille – alles ist vorbei – Ende der Geschichte

Nein, ganz im Gegenteil.

Wir, die wir fast 3200 Jahre später leben, wissen heute ohne Zweifel, dass danach binnen kürzester Zeit alle Kulturen jener Epoche verschwunden sind. Nicht nur in Griechenland, sondern in der gesamten damaligen Welt. Von Griechenland nach Kleinasien über Anatolien bis Mesopotamien und in der Levante bis tief hinein nach Ägypten und zurück bis auf die Insel Kreta. Ganze Völker ausgerottet, wie die Minoer, und ganze Landstriche und Großstädte dem Erdboden gleichgemacht. Niemand weiß bis heute warum. Was hat man übersehen, was hat man in der Forschung nicht ins Kalkül gezogen?

Trotz unzähliger Dokumente, die Forscher seit vielen Dekaden bei Ausgrabungen auffinden, scheint sich bis heute kein unumstößliche Beweises darauf zu finden, warum die Kulturen der damaligen Welt untergingen. So der Stand der Wissenschaft. Erstaunlich. Aber hat man alles genau genug angeschaut? Sicher nicht! Vielleicht, weil man einmal mehr, wie schon vor Schliemann, nicht glauben wollte, dass Homer nur eines will: Ganz nach der Wahrheit zu berichten. So auch in der Odyssee, die an ihrem Ende klar einen Impakt beschreibt, genau, wie vordem die Ilias die Lage und das Schicksal der Stadt Troja umfassend beschreibt.

Es darf bezweifelt werden, dass das Epos mit diesen Zeilen endete. Wohl ging hier Text verloren und irgendwer stoppelte ein kurzes holpriges Ende zusammen, so ganz entgegen jeglicher sonstiger sprachlicher und erzählerischer Qualität in den vielen Gesängen. Trotzdem. Einmal mehr erweisen sich die Angaben in Homers Schriften als die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit („ganz nach der Wahrheit“). Man muss halt nur ein wenig auch zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, welche Botschaften in seinen Epen stecken.

Schauen wir mal genau hin: In dieser Beschreibung des Auftrittes der Göttin Pallas Athene und des Göttervaters versieht der Urheber der Odyssee Zeus mit Attributen, die sich sonst nirgendwo finden. Der flammende Schild, der Feuerstrahl. Dass Zeus nun auf einmal keine Blitze mehr vom Olymp schickt, ist neu. Auch dass Pallas Athene plötzlich der personifizierte Donner ist, ist zumindest auffällig.

Ganz zu schweigen davon, dass die beiden Gottheiten neuerdings die Kämpfenden so erschrecken bzw. attackieren, dass diesen gar die Waffen entgleiten und die gestandenen Helden im Kampf einfach zu Boden geschmettert werden. Das ist nicht die Schilderung eines göttlichen Eingriffes in menschliches Handeln, wie wir es sonst bei Homer lesen, wie das Handeln der Götter an allen anderen Stellen usus ist. Das ist etwas ganz anderes, weil eben etwas ganz Unbeschreibliches geschildert wird.

Etwas, was unbegreiflich und unbekannt ist, etwas, was nicht nur die Geschichte des Odysseus als Erzählung hier vielleicht enden lässt. Nicht als plötzlich ungeschicktes dramaturgisches Mittel der Wahl des größten Meisters, sondern etwas noch nie da gewesenes, Unbeschreibbares. Etwas, das einen Supergau bedeutet, der die Geschichte der gesamten damals bekannten Welt und seiner vielen Hochkulturen schlagartig beendet. Alles von Menschenhand Geschaffene wird zeitversetzt jeweils binnen Sekunden beinahe vollständig auslöscht.

Es wird der Einschlag eines oder mehrerer Asteroiden oder Meteoriten geschildert, die alles vernichten. Nach Homer: Vom Olymp kommend und vor Pallas Athene fallend. Homer bleibt bei der präzisen Schilderung der Ereignisse. Er beschreibt damit die Flugbahn des kosmischen Objekts. Sie verläuft also von NNW nach SSO. Auch, wie sich das todbringende Schauspiel genau abgespielt hat, wird beschrieben, ebenso die sichtbaren und hörbaren Begleiterscheinungen des Impakts.

Ein Knall, der beinahe das Trommelfell zerfetzt, der den Helden die Waffen aus den Händen reißt, begleitet von gewaltigem Donner samt einer Druckwelle, die auch den stärksten Mann ansatzlos zu Boden schleudert. Gleichzeitig der feurige Schild vor dem Feuerstrahl, der vom Himmel rast und irgendwo in der Ferne niedergeht. Und alles, was darauf folgt, im näheren Umkreis oder auch weit weg vom Ort des beschriebenen Geschehens verschweigt der Schreiber der Geschichte.

Nicht, weil es nicht berichtenswert wäre, sondern wohl deshalb, weil es jeder und jede am eigenen Leib miterlebt, egal wo jemand zu diesem Zeitpunkt aufhältig ist. Vielleicht auch, weil es kaum mehr Überlebende gibt, die des Schreibens oder des Gesangs kundig sind oder allgemein in der Lage wären, Überlieferungen weiter zu geben.

Außerdem: Alle Überlebenden sehen mit eigenen Augen ständig das Grauen der Verwüstung, noch über viele Jahre und Jahrzehnte danach. Niemand muss es aufschreiben. Es ist. Niemand mag es aufschreiben, weil alles andere wichtiger ist. Das Überleben oder die Flucht. Es gibt aller Wahrscheinlichkeit eben auch einfach niemand mehr, der es aufschreiben könnte. Die meisten sind tot. Auch die Vertreter der gebildeten Eliten, somit auch die wenigen des Schreibens Kundigen.

Die Katastrophe begegnet einem auf Schritt und Tritt. Asteroiden oder Meteoriten waren binnen Sekunden da und von gewaltiger Größe. Asteroiden explodierten wahrscheinlich noch in der Atmosphäre, nahe Kreta. Von den Menschen und deren Werken auf Kreta ist so gut wie nichts übriggeblieben, auch Zypern ist weitgehend ausgelöscht. Im Umkreis von 500 Kilometern herrscht Tod und Verderben. Kein Baum steht mehr, kein Palast, kaum ein Haus und kaum ein Stall.

Kein Schiff auf See übersteht den tödlichen Sturm der Druckwelle, an Land brechen allenthalben gewaltige Brände aus, die vernichten, was noch übrigblieb. Kaum ein Mensch überlebt. Wer nicht tot ist, ist schwer verletzt und stirbt schon bald an den Folgen. Die wenigen Überlebenden können nichts tun. Lebensmittel, Behausungen, alles weitgehend vernichtet oder unbrauchbar. Fauna und Flora ausgelöscht. Hungersnöte allenthalben. Die meisten Überlebenden fliehen irgendwohin, wo sie meinen, in Sicherheit zu sein. Aber es gibt keinen Ort mehr, der verschont geblieben wäre. Die einst blühende „globale“ Wirtschaft bricht von einem Tag auf den anderen zusammen. Nichts geht mehr.

Keiner denkt mehr an Krieg oder an Rache oder daran, alte Rechnungen zu begleichen. Wo etwas übrig ist, tut man sich zusammen, um zu überleben. Was genau passiert ist, weiß niemand. Auch das unermessliche Ausmaß der Katastrophe ist zunächst keinem bewusst und bekannt, da alle Verkehrsverbindungen und somit Informationsströme nicht mehr funktionieren. Keiner versteht, was binnen Sekunden über die Menschheit herein gebrochenen ist. Wie vom Blitz im wahrsten Sinne des Wortes getroffen sind Mensch und Tier gestorben. Von einem Augenblick zum anderen. Je näher zum Zentrum der Explosion, umso verheerender, umso chancenloser.

Auf Ithaka war das Wetter schön, man konnte das Naturereignis sehen, wenn man gerade im Freien war oder zum Himmel blickte. Aber alles kam ohne die geringste Vorwarnung. Wie denn auch, kein Mensch hatte jemals derartiges erlebt. Dass es nach Homer in der Neumondnacht vom sternklaren Himmel mehrmals gewaltig gedonnert hat. Dass Zeus dem Odysseus ein laut donnerndes Zeichen schickte. Es hörte sich an, als würde der Donner direkt vom Olymp kommen. Klar, darüber hat man sich schon sehr gewundert. Aber als Warnung konnte es niemand verstehen.

Letztlich wurde das laute ferne Donnern von Göttervater Zeus als gutes Omen für Odysseus gesehen und deshalb ansonsten nicht weiter hinterfragt. Es gab wohl östlich und südöstlich von Ithaka bereits Impakte. Irgendwo in der Ferne waren schon Asteroiden explodiert oder hatten Meteoriten eingeschlagen, ohne dass man es auf Ithaka sehen konnte und ohne zu ahnen, was alles noch folgen sollte. In Anatolien, in Kappadokien, in der Levante? Wahrscheinlich. Diese Impakte aber waren nur der Anfang dessen, was die Menschen an Todbringendem ab dem 20. April des Jahres 1178 v. Chr. allenthalben ereilte.   

Asteroiden und/oder Meteoriten, die letztlich alles vernichtet haben. Bezeugt von Funden, die Archäologen gemacht haben. Funde in Form von ausgegrabenen Brandschäden in allen Kulturen der damaligen Welt. Unzweifelhafte Nachweise dafür, was damals geschehen ist. Sie geben beredt Auskunft über die letzten Tage der damaligen Zivilisationen und Hochkulturen. Schaurig und gruselig anzusehen, nur bis heute nicht als Folge von Impakten eingeordnet, obwohl überdeutliche und auffällig zahlreiche Hinweise für einen Impakt dokumentiert sind, die auf eine extreme Hitzeentwicklung schließen lassen, die es in dieser Form bei herkömmlichen Brandereignissen nicht gibt. Alles von einschlägigen Fachleuten bestätigt.  

Doch die Impakttheorie kam bisher niemand in den Sinn. Verständlich, weil solche seltenen Ereignisse nicht standardmäßig im Portfolio von Archäologen und anderen Wissenschaftern vorkommen. Trotzdem sollte die Wissenschaft alles an Hinweisen zulassen und prüfen, um nicht in den Geruch der Nachlässigkeit zu geraten. Zudem sollte eine abschließende Verifizierung der Impakt-These mühelos gelingen, wenn man alle moderne Technologie, die es gibt, unvoreingenommen zum Einsatz bringt.

Wie überall im Umkreis der Impakte ab dem 20. April 1178 v. Chr. war auch auf Ithaka das Ausmaß der Zerstörung immens, wenn auch vielleicht nicht ganz so verheerend, wie auf Kreta oder Zypern oder in der Levante oder Kleinasien oder auch im Hethiterreich. Diese Gegenden lagen wohl nahe an Explosionen, die ein Asteroidenschauer und/oder Meteoriten auslösten, die weitum so gut wie alles vernichteten. Wo es weitere Einschläge gab, beschreibt die Odyssee nicht. Nichts desto trotz sollten die zahlreichen dokumentierten archäologischen Ausgrabungen allein schon Beweis genug sein.

Aber zurück in die Vergangenheit:

Die Überlebenden wurden der ultimativen Katastrophe in keiner Weise Herr. Zu viele Tote, nachfolgend Seuchen und Krankheiten. Hungersnöte. Wer konnte, suchte sein Heil in der Flucht. Aber wohin fliehen, wenn die gesamte damalige Welt in Schutt und Asche lag und überall die Zerstörungen ein solches Ausmaß hatten, dass selbst an Wiederaufbau nicht zu denken war.

Die meisten waren tot. Die noch lebenden Menschen hatten keine Chance. Auch nicht die Eliten. Herrschaftsstrukturen existierten nicht mehr. Wer sollte die Führung übernehmen? Neue Herrscher traten neben den wenigen überlebenden auf den Plan. Es blieb nur eins, neue Schiffe zu bauen und auf Raubzüge zu gehen. Das hatte man vor und nach dem Trojanischen Krieg ja schon erfolgreich praktiziert. Darin hatte man Erfahrung. Von den Göttern gefälltes Holz für den Schiffbau war ja im Überfluss vorhanden.

Alle betroffenen Völker versuchen nach den ersten Schritten der Bewältigung des Geschehens mit all seinen Toten und Zerstörungen, das Ausmaß der Katastrophe im engeren Umfeld zu erfassen. Es dauert Wochen und Monate, bis die ersten der betroffenen Gesellschaften in der Lage sind, in entferntere Gebiete vorzudringen. Zum einen, weil die Transportmittel und Fachleute fehlen, und zum anderen, weil es dauert, bis neue Transportmittel, insbesondere Schiffe, repariert oder neu hergestellt sind. Die Ergebnisse der Erkundungen sind niederschmetternd.

Rund um das östliche Mittelmeer, seinen Inseln und seinem Hinterland nur Tod und Verderben. Danach ist allen klar, dass ein nachhaltiges Überleben in den bisherigen Siedlungsgebieten für die Achaier auf Dauer unmöglich erscheint. Also weiten sie ihre Erkundungsradien weiter aus und sondieren bei jeweils weit entfernten anderen Völkern und Regionen. Aber auch da überall nur Tod und Verderben. Apokalyptisch in Mesopotamien und im Hethiterreich. Besonders schlimm in der Levante, schwer getroffen das mächtige Ägypten. Allerdings ist der Zerstörungsgrad in Ägypten vergleichsweise gering.

Zerstörung, Chaos und Not. Eigentlich war alles sinnlos. Folglich bediente sich jede Schiffsmannschaft oder Flotte nach Belieben in den Ruinen der einst blühenden Städte. Eine Gegenwehr fand schlicht nicht statt, durch wen auch? Einzig Ägypten bot den marodierenden Achaiern, die sich zusammengeschlossen haben, noch Gegenwehr. Auch dieses Land war schwer getroffen, doch dort gab es noch eine einigermaßen intakte Infrastruktur. Je weiter nilaufwärts, umso geringer waren die Zerstörungen. Aber wer waren denn nun die in der Geschichtsschreibung so genannten „Seefahrer“? Es waren die Griechen von den Inseln im Ägäischen und Ionischen Meer und vom Peloponnes.

Auf der Suche nach Beute, um zu überleben oder auf der Suche nach neuem Lebensraum. Schließlich ist ihnen sehr bald klar, dass der nächst gelegene taugliche Lebens- und Siedlungsraum Ägypten ist. Dort wollen sie neue Herrscherstrukturen aufbauen, nachdem sie die Ägypter unterworfen haben. Also verbünden sie sich und es kommt zur entscheidenden Seeschlacht mit den Ägyptern unter Ramses III. vor dem Nildelta. Ein unbeschreiblich grausames Gemetzel tötet noch einmal den Großteil der ohnehin zahlenschwachen Überlebenden nach dem Impakt beiderseits. Der endgültige Todesstoß für die damaligen Zivilisationen. Ein fataler Fehler.

Eindrucksvoll dokumentiert ist diese Schlacht in einer Vielzahl von Belegen und Hinweisen. Allen voran auf dem Relief in der Nekropole von Ramses III. in Tahut, dem heutigen Medinet Habu in Ägypten, nahe dem bekannten Luxor. Auf diesem Relief ist dargestellt, wie die Ägypter die angreifenden Seevölker abwehren und schließlich vernichten. Das alles passiert im Jahr 1174 v. Chr., also vier Jahre nach dem Impakt in 1178 v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum.

Die achaiischen Völker haben es binnen vier Jahren geschafft, sich zu verbünden, um neuen Lebensraum zu erkämpfen. In erster Linie war ihr Ziel, das unermesslich reiche und halbwegs intakte Ägypten zu unterjochen, um dort ein neues achaiisches Großreich zu errichten. Alle seefahrenden Griechen, die noch konnten, hatten sich wohl dem Kriegszug zur See gegen die Ägypter angeschlossen, wie die Zahlen in den Inschriften von Tahut beweisen. Denn zur Herkunft der sogenannten Seevölker gibt Ramses III. unzweifelhaft Auskunft. „Sie kamen von ihren Inseln“. Mehrzahl!

Viele Inseln gibt es neben Kreta und Zypern vor allem in der Ägäis und einige im Ionischen Meer. Dort liegen Ithaka und alle anderen Ionischen Inseln. Wären die Seevölker nur von einer oder einigen wenigen großen und namentlich bekannten Inseln gekommen, wären diese sicher mit ihrer gängigen Bezeichnung erwähnt worden. Sie kamen aber offensichtlich von vielen Inseln, deshalb die Diktion „von ihren Inseln“ als Sammelbegriff im ägyptischen Text.  

Was uns das Relief noch zeigt, sind zwei Schiffstypen. Geschnäbelte der Griechen und sichelförmige der Ägypter. Die sichelförmigen Schiffe tragen Bogenschützen und einige Krieger mit Kurzschwertern. Nur drei Schilde, eher klein und tafelförmig mit einer Rundung oben, finden sich auf der Darstellung der Kämpfer. Auffällig ist, dass der sichelförmige Schifftyp kein Steuerruder hat. Gleich dem Schifftyp der Phäaken, wie ihn Odysseus in seinen Beobachtungen auf Scheria schildert.

Die Schiffe werden auf dem Relief in drei übereinander liegenden Reihen dargestellt. Das äußerst rechte der mittleren Reihe brennt. Vier Krieger rechts am Schiff sind durch Pfeile getroffen, viele von der Mannschaft stürzen sich vor dem Feuer seitlich in die Fluten. Es handelt sich um ein geschnäbeltes Schiff. Die geschnäbelten Schiffe tragen Krieger mit Schwertern, mächtigen Lanzen sowie großen runden Schilden. So waren die Achaier standardmäßig ausgerüstet, wie in Ilias und Odyssee beschrieben.

Die geschnäbelten Schiffe sind die klassischen Kampfschiffe der Achaier, so wie sie zigfach von Homer beschrieben werden. Und nicht nur dort. Auch archäologische Funde belegen diese Form mehrfach. Es steht nicht gut um die Achaier, die Schiffe der Ägypter scheinen deutlich überlegen zu sein. Ohne Steuerruder sind sie wohl wendiger und schneller. Haben etwa die Ägypter die phäakische Schiffstechnologie übernommen? Kämpfen die Phäaken auf Seiten der Ägypter? Beides ist denkbar.

Letztlich siegen die Ägypter in dieser unglaublichen Schlacht. Ein katastrophaler Pyrrhussieg mit schweren Folgen. Verheerend für die Angreifer und nicht minder für die Verteidiger. Beide Kulturen löschen ihre Eliten aus und verlieren sich in den folgenden drei bis vier Jahrzehnten weitgehend im Nichts. Es braucht beinahe 1000 Jahre, bis sich die bekannten Kulturen der damaligen zivilisierten Welt wieder soweit erholen können, dass man überhaupt wieder von „Kulturvölkern“ sprechen kann.

Immer noch nennt die Geschichtschreibung die im Jahr 1174 v. Chr. gegen Ägypten kämpfende Armada die „Seevölker“ und schiebt diesen die Schuld am Untergang der damaligen Welt zu. Die herrschende Lehre spricht von unbekannten Seefahrern, die urplötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind. Eine riesige Seestreitkraft, die zufällig daherkam. Diese Erklärung ist zu allererst einmal vollkommen unbestätigt und wirkt ebenso hilflos wie praxisfern. Quasi ein wissenschaftlicher deus ex machina im Drama um einen Weltuntergang.

Die Erklärung eines Zusammenschlusses verzweifelter Zivilisationen der achaiischen Hemisphäre nach dem Supergau scheint jedenfalls schlüssiger. Vor allem, wenn man Pharao Ramses III. glaubt, dass die sogenannten „Seevölker“ tatsächlich „von ihren Inseln“ kamen. Also Menschen und Inseln, die er kannte, sonst hätte er nicht wissen können, dass sie von Inseln kamen. Die Frage stellt sich nun, von welchen Inseln die Seevölker hätten kommen sollen, wenn nicht von Kreta, Zypern, den Ägäischen und den Ionischen Inseln), sowie dem Peleponnes (Dulichion).

Schwer zu glauben ist, wie es einzelne Wissenschaftler vorschlagen, dass die Seevölker von den Skandinavischen oder Britischen Inseln kommen. Hier zeigt sich wiederum das Phänomen bei Odysseus und Homer, dass jede noch so krause Idee beleglos ernsthaft wissenschaftlich diskutiert wird. Ist das Zufall, wie das Auftauchen der Seevölker just in 1174 v. Chr.? Wo aber könnten andere Inseln sein, die Pharao Ramses III. hätte kennen können? Mit Sicherheit kannte er nur die Achaier und deren Inseln. Das ist Fakt. Andernfalls fänden sich sicher einschlägige Hinweise in den peniblen Aufzeichnungen seiner Beamten und der gesamten ägyptischen Kultur vor und nach dem Impakt. Die gibt es aber nicht. Null!

Man bedenke, dass die nachfolgenden Hochkulturen der Phönizier und Römer in dieser „dunklen Zeit“ nach dem Impakt erstaunlich erstarkten. Warum? Sie waren genau dort angesiedelt, wo die Impakte nach dem 20. April 1178 v. Chr. wegen der großen Entfernung vom Zentrum der Einschläge weniger direkte Auswirkungen auf Mensch und Tier hatten. So konnten sich diese Kulturen in den auf die Impakte folgenden Jahrhunderten und darüber hinaus ungehindert entwickeln.

Ungehindert vor allem deshalb, weil sie einerseits schon auf dem Weg in Richtung Hochkultur waren und andererseits in ihrer Entfaltung nicht mehr durch feindliche Übergriffe oder Unterwerfungsversuche durch fremde Mächte der ausgehenden Bronzezeit gehindert, gestört oder zurückgeworfen werden konnten. Diese Mächte waren ja nun weitgehend ausgelöscht, wie auch deren bisherigen Lebensräume kaum mehr bewohnt waren.

Gut nur, dass die meisten der eindringenden Himmelskörper vor dem Aufschlag wahrscheinlich zerplatzten. Ansonsten müssten sich mehr Einschlagkrater finden, die zeitlich passen. Jedenfalls können wir heute, wenn wir den Mut haben, ausgetretene Wissenschaftspfade verlassen, dank einiger unstrittiger Beweise, das Ende der damaligen Welt nachvollziehen und erforschen. Ohne jegliche Übertreibung: Es war eine Katastrophe, die tatsächlich etwas vom Ende der Welt hatte. Es war das Ende großer Völker und Kulturen, auf deren Fundament unsere heutige Welt immer noch aufbaut.

Im Bewusstsein dessen verdient dieses Ereignis unseren größten Respekt und allgemeines Interesse. Wenn nicht aus ehrendem Gedenken der Menschen und Ihrer Geschichte wegen, dann wenigsten im Lichte der Tatsache, dass wir Menschen mit dieser Gefahr jeden Tag leben müssen, weil alles vernichtende Impakte zum Planeten Erde genauso gehören, wie alles Leben – das kommt und vergeht.


Dr. Nikolaus Lottersberger,
Innsbruck, am 11. Februar 2021

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